Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
des Checkpostens liegen Geldrollen. Unten am Ufer glimmen die Zigaretten der Trucker, die ihre morgendliche Notdurft verrichten. Daneben leuchtet ein Tempel, langgestreckt und weiß. Er wirkt wie ein Schiff; aus seinem Inneren klingen Glocken.
Im Morgenlicht frühstücke ich, an einen Baum am Straßenrand gelehnt, frittierte Teigtaschen und beobachte zwei Jungen, die sich durch ein Baumwollfeld auf mich zubewegen. Es sieht aus, als würde einer von ihnen hüpfen. Als sie vor mir stehen, erkenne ich, dass der Kleinere verkrüppelt ist. Er watschelt über das linke Bein, seine Arme hängen schlaff am Körper herunter. Der Größere hat ihm sanft die Hand auf die Schulter gelegt. So gehen sie weiter die Straße hinab, der eine mit gleichmäßigen, geraden Bewegungen, der andere mit tanzendem Oberkörper. Als stütze sich der Größere auf den Kleineren. Als wäre der offensichtlich Schwache der eigentlich Starke. Was für eine schöne Szene in einem Land, in dem der sozialen Diskriminierung schon in den heiligen Schriften des Veda mit dem Kastensystem ein religiöses Fundament gelegt wurde.
Hinter dem zweiten Strom, den ich an diesem Tag überquere, liegt der Bundesstaat Maharashtra. Durch die lila
glänzenden Hügel am Fluss Penganga manövrieren Bauern knarrende Ochsenwagen mit massiven Eisenrädern. Der Fluss markiert auch die Grenze zwischen den dravidischen Sprachen des Südens und den indoeuropäischen des Nordens. Die Landessprache Marathi ist mit Hindi verwandt und wird in derselben nordindischen Schrift, dem Devanagari, geschrieben. Von nun an werde ich kaum noch Verständigungsprobleme haben.
Eine halbe Stunde lang schlurfe ich neben einem schweigsamen alten Sikh her. Auf dem Rücken trägt er einen zerschlissenen Militärrucksack, der zum Schutz vor Straßenstaub in eine orangefarbene Plastiktüte gestopft ist. Er geht barfuß und sehr langsam. Aus seinem Rucksack wippt ein Kirpan, ein kurzes Schwert.
»Wir machen eine Reise durch ganz Indien, so wie du«, sagt er auf Hindi. Womit er allein sich meint, Sikhs drücken mit dieser Redeweise Respekt vor sich selbst aus und werden dafür ähnlich mild belächelt wie bei uns die Ostfriesen. In Mahbubnagar, südlich von Hyderabad, hat er seinen Bruder besucht, jetzt läuft er nach Hause, nach Patna.
Er pflückt ein paar Beeren von niedrigen Büschen am Straßenrand, wir essen sie im Gehen, er stopft sich die Taschen voll. Der Highway ist frisch asphaltiert, doch es fährt kaum ein Auto. Das Land ist dünn besiedelt, aber es wird zusehends grüner. Zwischen niedrigen Hügeln liegen Flüsse und Kanäle. Schilfdickicht und Tomatenfelder wechseln sich mit Flächen ab, von denen ich nicht weiß, ob sie Weiden oder Äcker sind. Ein graues Kalb mit wackelndem Höcker rast einem Hirten davon, Hunderte Meter weit rennt der Mann ihm durch dichtes Gestrüpp einen Stacheldrahtzaun entlang hinterher. Als er das Tier direkt auf meiner Höhe erreicht, dreht es sich rasant um, er springt zur Seite, um den Hörnern auszuweichen, dann
rasen Verfolger und Verfolgtes den Zaun in umgekehrter Richtung wieder davon.
Spät am Abend rolle ich nach einem langen Marschtag auf dem Gepäckträger eines Radfahrers, der mich die letzten Kilometer mitgenommen hat, nach Pandharkaoda hinein. Die erste Stadt in Maharashtra ist hübsch und kompakt. In kleinen, offenen Läden unter überstehenden Ziegeldächern gehen Friseure, Schneider, Landmaschineningenieure und Männer, die kaputte Kugelschreiber wieder instand setzen, ihrer Arbeit nach. Kaum einer beachtet mich auf der dunklen Hauptstraße. In der Pankaj Lodge bin ich der einzige Gast. Zum Entzücken der beiden Portiers lese ich den auf Nagari geschriebenen Namen des Hausbesitzers und den viel längeren eines Heiligen, der in einer Nachbarstadt residiert, laut vor. Auf der Suche nach einem Restaurant spricht mich ein junger Mann namens Aziz Khan an. Er will mich nach Deutschland begleiten. Den Grund, den er angibt, kann ich in diesem Landsteil kaum nachvollziehen: »Indien ist so überbevölkert«, sagt er.
Die Restaurants und Bars in Pandharkaoda sind mit Lichterketten geschmückt. In einem der Etablissements trinke ich zwei 650-Milliliter-Flaschen Royal Challenge Premium Lager und esse drei Stück trockenen Fisch. Dicke, grüne Stoffvorhänge verschließen die Türen der Separees. Aus den benachbarten Holzkästen höre ich Geldgeklimper, lautstarkes Rechnen, Schreien und Husten. Alle zehn Minuten geht der grüne Vorhang auf.
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