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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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»Brauchst du noch etwas?«, fragt dann ein Bediensteter. »Alles bestens«, sage ich. »Relax«, antwortet er. Ich folge seiner Anweisung.
    Am nächsten Tag passiere ich Hügel und Büsche und verstreute Siedlungen, durch die sich ein Strom von Lastwagen windet. Ständig hupen die Fahrer und bieten mir winkend eine Mitfahrgelegenheit an. In dem kleinen Ort Pohna halte ich auf einem der matratzenlosen Betten, die vor dem Aroma Family Restaurant aufgebaut sind, Siesta mit tamilischen Truckern. Sie bieten mir an, mich mit ihren Stammprostituierten zu vergnügen. »Kostenfrei«, sagen sie.
    Am frühen Nachmittag marschiere ich in eine niedrige Hügelkette hinein, als nach einigen Kilometern das sechszehnte Fahrzeug an diesem Tag hupt. »Bis Hinganghat findest du keinen Ort zum Schlafen mehr«, sagt der Beifahrer, ein Junge mit Zahnlücke, Jeans und sehr langen Fingernägeln. »Und im Wald gibt es Tiger.« Ich gebe mich geschlagen. Etwas unbehände klettere ich mit meinen schweren Wanderstiefeln über ihn hinweg, um mich in die Mitte des Führerhauses zu setzen. In der Frontscheibe des Lasters baumelt eine große Muschel an einem Band. Auf dem Armaturenbrett blinken kleine blaue Glühbirnen um den Kopf einer Statue des Gottes Krishna. Auf einem kitschigen Bild reißt Hanuman den kompletten Berg Dronagiri aus dem Himalaya. Der Fahrer ist Mitte vierzig und hat feine Gesichtszüge.
    In einer Serpentine springt der Junge aus dem Wagen und bricht Zweige von einem Niembaum. Wir knabbern die Rinde ab, der Fahrer zeigt mir, wie man sich mit dem Inneren die Zähne putzt. Der Saft, der aus den gelben Fasern rinnt, schmeckt bitter. Die Wirkstoffe des Niembaums wurden von indischen Ärzten schon vor zweitausend Jahren genutzt. Doch seit zwei Jahrzehnten gibt es einen Streit um Patente, die amerikanische, japanische und europäische Unternehmen auf Niemprodukte anmelden. »Biopiraterie« nennen Globalisierungskritiker das Phänomen.
    Oben auf der Hügelkette halten wir an einem Truckstop. »He Junge, hol Tee!«, sagt der Mann hinterm Steuer. Er komme aus Bihar. Er zeigt mir eine lange Liste mit Zahlen, Einnahmen und Ausgaben. Er fahre quer durchs Land, mal von Benares nach Nagpur, mal von Chennai nach Hyderabad. Jetzt hat er Zuckerrohr geladen, das er nach Delhi bringt. Doch die Bilanz seiner Arbeit ist dünn: »1200 Rupien bekomme ich im Monat, aber das geht durch zwei. Ein zerlumpter Kerl tritt ans Fenster des Lastwagens und redet auf den Trucker ein. Sein ganzes Geld sei ihm gestohlen worden, er sei beim Trinken eingeschlafen, ob er ihm helfen könne. Der Fahrer lehnt ab. »Die Leute in Maharashtra sind so was von krank«, sagt er. »Sie saufen den ganzen Tag.«
    Der Beifahrer bringt den Tee, kämmt sich die schnell noch gewaschenen Haare und platziert einen Plastikkrug mit Wasser im Fußraum des Cockpits. Der Fahrer startet den Diesel. Ich schlafe auf meinem Sitz ein und wache nicht wieder auf, bis wir Hinganghat erreichen.
     
    Hinganghat wirkt wie eine Reihe einzelner, aneinandergeklebter Siedlungen. Ladengeschäfte und Kioske liegen neben Lagerhallen und Fabriken. Ansammlungen von Wohnhäusern wechseln sich mit Nähereien, Wäschereien und Fahrradläden ab. Kaum ein Gebäude ist höher als drei Stockwerke. Auf den öffentlichen Plätzen stehen Statuen des Sozialrevolutionärs Dr. Ambedkar, der von 1891 bis 1956 lebte; seine Hand ist mal lehrerhaft erhoben, mal weist sie pedantisch irgendeine Straße hinab. In meinem engen Hotelzimmer bemühe ich all meine Vorstellungskraft, um zu verstehen, dass die halb verspiegelten Wände und die hüfthohen, knallgrünen Kacheln vermutlich einmal als elegante Komposition gemeint waren.
    In Hinganghat haucht William Lambton im Januar 1823 sein Leben aus. Er hat sich Tuberkulose eingefangen, er leidet unter chronischen Hustenanfällen. Dennoch hat er auf die Feiertage mit der Familie um den Jahreswechsel verzichtet und ist mit seinem Assistenten Joshua de Penning aufgebrochen, um das Hauptquartier des Survey von Hyderabad in die knapp 500 Kilometer weiter nördlich gelegene Stadt Nagpur zu verlegen. Sein Arzt hat dem für seinen guten Appetit bekannten Expeditionsleiter zweimal einen Aderlass verordnet, zudem die »entzündungshemmende Methode der Enthaltung von Fleisch und Wein«. Zwar ernährt sich Lambton folgsam von Unmengen von Orangen, jenen Früchten, für die die Region Nagpur bis heute bekannt ist. Doch dem Wein spricht er weiter kräftig zu.
    Am Abend des 7. Januar 1823 bechert

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