Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Gastraum ist indirekt von grünen, blauen und silbernen Strahlern beleuchtet. Der Boden ist mit dicken Teppichen belegt. Die Tischdecken sind mattschwarz bis auf die Flecken, die Linsen und Curry hinterlassen haben. Der Besitzer ist ein Bekannter von Singh, er trägt einen blauen Anzug und ein weißes Hemd. Er esse später, sagt Kamal Singh, er warte auf dem Parkplatz, und verabschiedet sich mit dem Besitzer durch die Eingangstür. Ein Ober in enger schwarzer Bügelfaltenhose mit weißen Handschuhen weist mir einen Platz zu. Aus den Lautsprechern plätschert Cool Jazz. An der Wand hängt ein Bild, auf dem sich ein tosender Wasserfall in eine bonbonfarbene Menschenmenge verwandelt, die mit Ziegeln und Holzgerüsten eine städtische Gasse errichtet. Auf der Karte finde ich nichts als nordindische Standards. Ich bestelle rote Bohnen mit Butter, Brot und Gemüse und speise mit Blick auf ein
gelangweilt wirkendes Teenagerpärchen. Ich stelle mir vor, wie es als Jugendlicher in Zeiten von Internet und Satellitenfernsehen sein muss, wenn Ausgehen in einem solch pseudohippen Restaurant oder vielleicht ein gelegentlicher Kinobesuch die einzigen Abwechslungen sind. Echte Fluchtmöglichkeiten aus dieser braven Provinz bieten nur die indischen Megastädte. Aber auch einen echten Kontrast.
Die Portionen in dem Restaurant sind so nahrhaft, dass ich die Schüsseln halb voll stehen lassen muss. Kamal Singh fährt mich zurück ins Hotel. Der Punkte-Ansager vom jetzt neonbeleuchteten Kricketfeld gegenüber zählt mich mit seinem Megafon in den Schlaf. Aber tatsächlich ist es fast genau um dreiundzwanzig Uhr schlagartig still. Singh hatte recht. Es fahren kaum noch Autos und auch ohne Ohropax höre ich kein Geräusch vom Kricketfeld mehr.
Doch dafür setzen um Mitternacht Trommeln ein. Ekstatisch und rhythmisch. Es ist Muharram, ich hatte es ganz vergessen. Die Muslime tanzen durch die Nacht, mit Pauken und kleinen Handtrommeln ziehen sie singend die Hauptstraße auf und ab. Die Musik ist simpel und leidenschaftlich. Ich kann nicht schlafen. Ich stehe auf und blicke hinab auf die Hauptstraße. Der Regen hat jetzt auch Narsinghpur erreicht. Die Gläubigen tanzen durch die dicken Tropfen. Im fahlen Licht wirkt die pfützenübersäte Straße kalt und abweisend.
Paradise Hotel
Als ich am nächsten Tag aufstehe, nieselt es sporadisch. Ich wandere über Ausfallstraßen, über fertige und halb fertige Teile der zunächst zweispurigen Landstraße durch Pfützen und Matsch dem Fluss Narmada entgegen. Jenseits der Piste ist das Land kahl, kein Baum ist zu sehen, unter dem ich mich vor dem stärker werdenden Regen verstecken könnte. Zum Glück habe ich meine Schuhe imprägniert, denke ich. Zum Glück habe ich meine Regenjacke auch diesmal eingesteckt. Aber leider keine Regenhose. Um neun Uhr bin ich von der Hüfte abwärts klatschnass. Es ist eisig kalt, und meine Brille beschlägt beständig. Der Matsch auf den Seitenstreifen reicht mir bald bis zum Knöchel.
Gegen elf Uhr erreiche ich den Narmada. In Nebel und Sturzregen erkenne ich kaum die Brücke, die über den mächtigen Fluss führt. Grau und träge strömt er dahin. Es gießt jetzt aus Eimern, und meine Kräfte sind aufgezehrt. Ich habe die vergangene Nacht kaum geschlafen, ich bin durchnässt bis auf die Knochen. Ich zittere vor Kälte. In der ersten Siedlung hinter dem Fluss kapituliere ich.
Vor der Ladenzeile des Busbahnhofs hocken schlotternde Bauern neben Kartoffelsäcken, entzünden Feuer aus Müll und rauchen Bidis. Ich springe in den nächsten Bus nach Norden. Alle Passagiere sind in Decken und Mützen gehüllt, unter vielen Kopfbedeckungen gucken nur die Nasen hervor. Es herrscht andächtige Katastrophenstimmung, kaum jemand spricht.
Immer wieder blitzt es über dem durch die Sintflut schaukelnden Gefährt. Die Sicht ist unter fünf Meter. Der Fahrer wischt ständig die Windschutzscheibe mit einem alten Lappen.
Ich bin nicht der erste Europäer, den der zentralindische Winter ausbremst. Knapp zweihundert Jahre zuvor, etwa 100 Kilometer nordwestlich von meiner Position, zerfetzt ein unbändiger Sturm George Everest die Zelte. Der neue Leiter des Great Trigonomical Survey ist weit in das »noch wildere und unberührtere Land« nördlich von Nagpur vorangekommen. Unbeirrt von wiederholten Malariaanfällen hat er das, was er als einen »Feldzug« bezeichnet, fortgesetzt. Er hat Berge »erobert« und Winkel »geschlagen«, sich durch die Hügel von Gawilgarh im heutigen
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