Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
erscheint in der Praxis, sie habe Schmerzen in der Schulter, klagt sie. Tiwaris
Bediensteter bettet den Jungen auf die Pritsche, die Frau setzt sich auf einen Hocker und hält seine Hand.
Ich frage den Arzt nach den häufigsten Krankheiten in Deori. Aber er antwortet nicht. Er guckt mich einfach nur lange an. Er blickt schweigend in den Regen hinaus. Dann bietet er mir an, einen Schreiber der lokalen Zeitung zu treffen. »Ein guter Mann. Er verfasst Texte über Kricket, über Lokalpolitik. Über kulturelle Veranstaltungen.«
»Gern«, lüge ich und frage mich, was es hier für kulturelle Veranstaltungen geben kann. »Vielleicht heute Abend? Vorher würde ich mich gern mal bei Tageslicht in Deori umsehen.«
»Dann sollten Sie den Khanderava-Tempel besuchen.«
Tiwari ruft seinen Bediensteten. Wir springen in den Kleinbus. Der Alte steuert das Fahrzeug durch enge, mit Steinplatten belegte Gassen und dann hinaus über eine Ausfallstraße an den Stadtrand. Der kleine Tempel taucht irgendwo aus dem Nebel auf, ein viereckiges Gebäude mit einem Kuppeldach, umgeben von einem fast abgesoffenen Sandplatz. Wir hüpfen über Inselchen in Schlick und Matsch unter das schützende Dach. Zwei Priester hocken in einem Nebenraum auf einem Sofa und gucken fern. Hinter einem blauen Metalltor steht eine Gottheit, eine vierbeinige Tierfigur. Umständlich und von vielen Sanskritwörtern durchsetzt, versucht mir der jüngere der beiden Brahmanen die Legende des Tempels auseinanderzusetzen. Aber ich höre schon nicht mehr hin. Ich will nur noch weiter, fort von hier. Unter dem schwarzen Himmel trete ich zurück auf den überfluteten Tempelvorplatz; der Regen hat nicht nachgelassen. Ich lasse mich direkt zum Busbahnhof fahren. Ich brauche ganz schnell eine warme, ruhige Bleibe. Für ein paar Tage. Für immer.
Auf der zweiten Busreise an diesem Tag spritzt das Regenwasser, das sich in den Fensterrahmen gesammelt hat, beständig in mein Gesicht. Von der Decke, in der irgendwo ein Loch sein muss, tröpfelt ein kleiner Wasserstrahl in meinen Schuh. Mehrmals erkenne ich auf der Passage hinter der beschlagenen Scheibe ausgebrannte Häuser neben der Trasse. Wie im Süden Madhya Pradeshs sind die Gebäude hier von Pfannen bedeckt. Aber die Mauern sind nicht mehr bunt bemalt und aus Lehm, sondern aus lotgerechtem, rechtwinklig gegossenem Beton. Baumlos, braun und klatschnass erheben sich die Hügel dahinter.
Irgendwo auf der Strecke zwischen Deori und Sagar, der nächsten Stadt auf meiner Reise, verbindet sich meine Route wieder mit jener, die die Geodäten um George Everest vermessen haben. In einem Ort, den sie auf ihren Karten Narmao nennen. Doch keines der Dörfer auf meinem Weg trägt diesen Namen.
Am Busbahnhof von Sagar holt mich ein junger Mann mit grünem Parka und Turnschuhen mit dem Motorrad ab. Er heißt Amit; er ist ein weiterer Bekannter von Deepak, ich habe ihn von unterwegs angerufen. Amit fährt mich zum Hotel Paradise, einem fünfstöckigen Komplex mit runden Fensterbögen in einer Vorstadt Sagars namens Makronia.
Die Straßenfront des Hotels ist mit türkisen Kacheln und meterhohen Mosaiken von Hirschen, springenden Delfinen, Flugzeugen und Lotusblumen geschmückt. Ich buche eine Fünfzig-Quadratmeter-Suite im zweiten Obergeschoss und falle in die Badewanne. Die Decken sind stuckverziert, die Wände mit dem Motiv zweier Bäuerinnen bemalt über denen eine knallrote Sonne vor einer üppige Landschaft und einem See aufgeht. Das satte Grün des Wandgemäldes bildet einen scharfen Kontrast zu der braungrauen, verregneten Szenerie
hinter der breiten Fensterfront meiner Suite: ein trostloser Parkplatz, auf dem ein paar Chauffeure und Hotelangestellte rauchend vor einem sprudelnden Springbrunnen im Kreis gehen, im Hintergrund die vierspurige Durchgangsstraße von Makronia und die schmucklosen Flachdächer der Vorstadt, die komplett in den tief hängenden Wolken verschwinden.
Am Abend besucht mich Amit. Wir sitzen auf der Couchgarnitur, und ich registriere, wie er es genießt, sich in meinem exotischen Schatten zu sonnen, als er die Bestellung aufgibt. Er fragt den Kellner, ob es in der Suite »AC-Heating« gebe, ob man die Klimaanlage auch warm einstellen könne. Der Mann verneint. Amit wendet sich an mich: »Du findest Indien rückständig, oder?« Er stopft sich mit gespreizten Fingern Salat in den Mund und hinterlässt achtlos Tomaten- und Gurkenstücke auf dem Sofa. Er sei Lehrer, erklärt er, er habe Physik studiert. Im
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