Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
erzählt uns, dass es hier Hungersnöte gab, »vor langer Zeit«, vermutlich irgendwann in den 1970er-Jahren. Dass sie in grausamen Wintern Brot aus Mangokernmehl buken. Fahles Licht fällt durch die Löcher im Dach. Ein kleines Mädchen spielt mit den klappernden, bunten Plastikarmbändern seiner Mutter, die zu Doppeldutzenden auf einem Metallgerüst hängen.
Als die Sonne schräg am Himmel steht, besuchen wir einen Mann, der Sadhu heißt, »der Gute«. Ich wundere mich über
diesen Vornamen. In Nordindien ist Sadhu vor allem eine Bezeichnung für Wanderasketen. Was dieser Herr keineswegs ist. Sadhu ist Heiler, und zwar ein stationärer. Er hat einen dicken, breiten Zinken im stoppelbärtigen Gesicht. Er trägt nichts als eine kurze Hose unter einem langen, weißen Hemd. Um den kräftigen Hals baumelt an einem Band eine kleine blaue Tasche mit bunten Ornamenten darauf. Der Heiler sitzt mit einem Enkelkind, das sich an ihn schmiegt, die kräftigen Beine ausgestreckt, vor einem Haufen Früchte der Pflanze Aonla. Auf der Terrasse vor der Westseite seines Hauses hat er sie auf einem Tuch ausgebreitet. Mit einem abgewetzten Holzstück schlägt er die Kerne heraus. »Sie sind ein gutes Mittel gegen Erkältungen und Ruhr«, sagt er.
Auf dem Schieferdach seiner Hütte liegen Kürbisse zum Trocknen. In einem meterhohen Gerüst aus Bambusstangen lagern Stockwerke von Maiskolben sicher vor Ratten und anderen Nagern. Von seinem Vater habe er gelernt, in welcher Mondphase die Heilpflanzen geerntet werden, um ihre Wirkung zu entfalten, welche Mantras man zum Großen Gott spricht, wenn man Patienten behandelt, sagt er, den Blick auf das wüst wuchernde Maisfeld auf der Westseite des Hauses gerichtet. »Die Leute aus dem Dorf bezahlen mich, wenn sie Geld haben. Oder sie geben mir ein paar Kokosnüsse für die Medizin. Viele Heilpflanzen finde ich im Wald. Manche baue ich auch an.« Außerdem wachsen auf seinen Feldern Kürbisse, Erbsen und Hirse.
Deepak fragt ihn nach Mitteln gegen Durchfall. »Am besten sind die Schoten des Amaltasbaumes«, antwortet der Mann. Der Doktor kennt die Antwort, sagt er, gerade deswegen frage er. »Ich teste eine Information immer wieder, manchmal fünf Mal, bei jedem neuen Besuch. Um ganz sicher zu sein, bevor wir ein Mittel in unserem Labor untersuchen.«
Wir hocken lange unter dem Vordach seines Hauses. Hühner laufen durch das Feld, Scharen tobender Kinder tauchen hinter den Ecken und aus den Innenräumen auf und verschwinden wieder. Sadhu behauptet, es seien alles seine Enkel. Er sagt, es sei nicht leicht, ein Heiler zu sein, man müsse eine spirituelle Gesinnung haben, sich um das Dorf sorgen, nicht um sich selbst, bei seiner eigenen Familie bleiben und sich nicht »mit anderen Damen« treffen. »Und man muss die Natur wirklich kennen, Wissen über Pflanzen sammeln.« Ich frage ihn, was er in der Tasche um den Hals trägt. »Es ist ein Talisman. In vielen Bäumen wohnen böse Geister. Er schützt mich auch vor Tigern und Bären. In dieser Tasche ist eine bestimmte Wurzel, die ich immer herausnehmen muss, bevor ich pinkele. Einmal im Monat muss ich für diese Pflanze beten und ihr ein lebendes Huhn opfern.«
Die Sonne geht früh über dem Tal unter, schnell wird es kühl. »Ein Straßenanschluss wäre gut für uns«, sagt Sadhu, während Deepak eine Runde Zigaretten ausgibt. »Auch eine funktionierende Stromversorgung und ein Mobilfunknetz. Aber fort von hier will kaum jemand.«
Spät am nächsten Morgen steigen wir die Schlucht hinauf. Wir rasen im Jeep über die grasbestandene Hochebene in Richtung Osten. Nachmittags setzt mich der Doktor an der Landstraße nach Norden ab, in einer Kleinstadt namens Harrai.
Winterregen
In Harrai schlafe ich zum ersten Mal auf der Reise in einem Rasthaus des Public Works Department. Die staatlichen Unterkünfte sind eigentlich für Mitarbeiter des indischen Straßenbauamts vorgesehen, werden aber auch an andere Gäste vermietet. Sie sind fast immer gleich aufgebaut: ein überdachter, von Holzpfeilern getragener Eingang, dahinter ein zentraler Speisesaal, rechts und links davon zwei Gasträume mit angeschlossenen Bädern. Mein Zimmer ist durch eine nicht schließende Holztür mit dem Speisesaal verbunden. Die Außentür hat kein Schloss. Das Dach ist vier Meter hoch.
Ich wasche meine Unterwäsche in einem Eimer im Bad, stelle den Deckenventilator an und trockne die nassen Kleidungsstücke auf einem Plastikstuhl, bevor mein Moskitotunnel mich in den
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