Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
spätnachmittäglichen Wahnsinn treibt. Ich versuche, die Konstruktion auf dem Bett aufzurichten, aber sie entfaltet sich nicht mehr wie gewohnt selbsttätig; eine Viertelstunde kämpfe ich mit den Gestängeringen, verzweifelt versuche ich, sie richtig zueinander zu positionieren, bevor ich frustriert aufgebe.
Als ich im Abendlicht das Zimmer verlasse, gebe ich nur dem diensthabenden Jungen Bescheid, dass ich kurz etwas essen gehe. Mangels Vorhängeschloss lasse ich die Tür unverriegelt. Kein Inder wäre vermutlich so leichtsinnig.
Harrai ist eine komplett eingeschossige Stadt. Niedrige Lehmhäuser mit schweren Dächern, die mit dicken, roten Tonpfannen gedeckt sind, prägen das Bild. Ich schlendere über
den Markt auf der Rückseite der Busstation. Kleinbauern sitzen im Staub und verkaufen aus geflochtenen runden Körben Ingwer und Tomaten, Zuckerrohr und Guaven, Kartoffeln und Süßigkeiten. Ein Junge hat in der Dämmerung auf einem Laken Plastikspielzeug ausgebreitet. Mit einem auffordernden Lächeln hält er mir seine Chinaware unter die Nase. Erst beim zweiten Blick in meine Augen erkennt er den Ausländer und zuckt merklich zusammen. Aber er setzt schnell ein unbeteiligtes Gesicht auf und streckt den vorbeiströmenden Marktbesuchern weiter seine Comicfiguren aus Hartplastik entgegen, als wäre nichts gewesen.
Ich erstehe den üblichen Proviant für den kommenden Tag und laufe hinüber zu einer Festwiese neben meiner Unterkunft. Ein großes Zelt steht in der Mitte des Rasenplatzes, aus zwei Meter hohen Lautsprechern, die davor aufgebaut sind, scheppert traditionelle Musik. Zwei Männer mit einem Akkordeon und einer Tabla spielen vor leeren Stuhlreihen auf. Ein Trommler, ein gelb gewandeter Mann mit gekämmten schwarzen Locken lächelt mir auffordernd zu. Aber ich will nicht der Einzige sein, der hier zuhört, womöglich bald umringt von einer Horde von Jugendlichen, die auf mich neugierig sind. Aber nicht auf ihre eigene Kultur.
Zurück am Guesthouse, setzt ein leichter Nieselregen ein. Auf dem Parkplatz zwänge ich mich durch zwei Reihen von Mittelklassefahrzeugen, an denen junge Männer mit auffälligen Sonnenbrillen lehnen, um in mein Zimmer zu gelangen. Ich verschließe die Tür von innen mit einem einfachen Bindfaden, setze meinen MP3-Player gegen die ständig klingelnden Handys und das Geschirrklappern im Speisesaal nebenan auf. Im Halbschlaf spähe ich aus dem kleinen Fenster meines Zimmers, drei Meter hoch unter dem schrägen Dach. Besorgt registriere ich, dass der Regen immer stärker wird.
Aber am nächsten Morgen scheint wieder die Sonne. Die Landstraße nach Narsimhapur ist wenig befahren. Nur gelegentlich hupt mich ein Lkw in den Straßenrand. Die Natur ist wild und lieblich zugleich, der übermütige, subtropische Gegenentwurf eines landschaftsgärtnernden Gottes zur europäischen Mittelgebirgsflora. Die frühe Sonne wirft Streiflichter zwischen die Teakbäume. Quadratische Felsblöcke markieren die Böschungen, Baumwurzeln wuchern darunter hervor und verknoten sich zu Geflechten. Der Wald riecht erdig und feucht vom nächtlichen Niederschlag. Erst gegen Mittag ziehen dicke Wolken auf.
Ich durchquere das erste jener Dörfer am See, die so typisch sind für Madhya Pradesh. Schmucke, bunte Häuser hängen über das Ufer. Ein wandernder Barde sitzt vor zwei Frauen in Saris und stimmt mit klagender Stimme ein altes Lied an. Im Hintergrund lauscht eine Kleinfamilie, ein junger Vater mit einem Baby auf dem Arm, dem Gesang über einen Zaun aus Dorngestrüpp hinweg. Hier könnte ich ewig wandern, denke ich. Es ist ruhig und trocken und nicht zu heiß. Gegen die Beschwerden im Fuß schlucke ich ein Gramm Aspirin.
Der Weg steigt durch einen immer dichteren Wald an. Mittags erreiche ich einen Pass, eine Schwelle nur, die den Rand der Satpura-Hochebene markiert. Dahinter führen Serpentinen hinab in das Tal des Narmada-Flusses. Auf einer Lichtung hat ein Hirte auf einer Axt, die halb so groß ist wie er, Platz genommen und beobachtet seine Ziegen, die durchs Unterholz rascheln. In der nächsten Kurve werfe ich mich erschöpft zur Rast in das knirschende Laub der Teakbäume jenseits der frisch betonierten Straße. Die handtellergroßen Blätter hängen halb zersetzt im Geäst wie Schleier, bevor sie von den Baumriesen hinabsegeln. Riesige Hanuman-Makaken huschen durch das Dickicht. Ein frischer Wind bläst. Es ist
fast unheimlich einsam auf dem Pass. Hier werde ich nicht übernachten.
Obwohl ich beim
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