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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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nördlichen Maharashtra und die Satpura-Berge hinauf in die kleine Stadt Sironj gekämpft.
    Und er hat eine Methode entwickelt, die es ermöglicht, nicht mehr bei Monsun zu arbeiten, sondern in der Trockenzeit. Nicht mehr tagsüber, sondern in den kühlen Nächten Zentralindiens. Die Vermesser benutzen nun Nachtlichter aus Terrakotta, fokussierbare Birnen, über die Everest begeistert schreibt: »Selbst bei Entfernungen von vierzig oder fünfundvierzig Meilen können wir (den Dunst) durchdringen, auch wenn er so dicht ist, dass die Sonne in einem Meer flüssigen Bleis unterzugehen scheint.«
    Doch am 10. Februar 1825 bringt der Winter das Unternehmen erneut ins Stocken. Nahe der Stadt Sironj zerreißt ein kleiner Taifun sämtliche Zelte der Expedition, auch das, in dem der große Theodolit gelagert wird. Zehn Männer, die sich in Sturzregen und Hagel an die doppelten Spannseiten des Baumwollzeltes hängen, können das Unglück nicht verhindern. Das kostbare Messgerät stürzt zum zweiten Mal auf der Expedition. Und wird so stark beschädigt, dass es erst
nach einer Generalüberholung elf Jahre später wieder zum Einsatz kommt.
    Everest ist erschöpft. Sein Gesundheitszustand ist alarmierend. Noch im März 1825 beantragt er Krankenurlaub, lässt sich versichern, dass er seinen Posten nicht verlieren werde, und tritt noch im selben Jahr über Kalkutta die Heimreise nach England an. Erst fünf Jahre später wird er nach Indien zurückkehren.
     
    In Deori steige ich aus. Die Stadt ist ein Dreckloch, zumindest im Dauerregen. Die Häuser sind blau und gelb gestrichen. Am Straßenrand stehen melancholische Teeverkäufer und drehen gusseiserne Anblasmaschinen über ihren Holzöfen, um in der feuchten Luft die Flammen zu schüren. Hustend laufen Bauern durch die Gassen, Männlein in Dhoti und Jackett, alle tragen einen Schirm oder ein Tuch auf dem Kopf.
    Für den Fall, dass ich nach Deori komme, hat mir Kamal Singh einen Namen mitgegeben: Dr. Tiwari. Ich rufe ihn an, ein Bediensteter holt mich in einem grüngrauen Kleinbus ab, ein alter Mann mit nur zwei Zähnen im Mund. Er setzt mich in der Dispensary von Tiwari ab. Der Doktor kauert, in eine übergroße Lederjacke gehüllt, in einem Korbstuhl hinter seinem Schreibtisch, der fast die gesamte Front des Raumes einnimmt. Die Praxis ist zur Straße hin durch ein metallenes Rolltor verschließbar, das halb offen steht. Im hinteren Bereich liegen ein dunkler Flur mit einem einfachen Bett und ein Behandlungszimmer. Auf der linken Seite führt eine Treppe hinter einer Tür mit vergitterten Holzfenstern in das obere Stockwerk. Am Rand des Tisches häufen sich ungeordnet Ampullen und Salben, dazwischen ein Stethoskop. In einer Glasvitrine liegen weitere Ampullen und Arzneimittelpackungen zu wilden Haufen aufgetürmt.
    Tiwari trägt einen Tika auf der Stirn, sein Gesicht ist pockennarbig und stoppelbärtig, die Augen gelblich, die Haare grau. Er erzählt mir, vermutlich, um eine Verbindung zwischen uns beiden zu konstruieren, von seinem Vater. Der habe lange im Westen gelebt. In Venezuela. Jetzt sei er schwer krank in seine Heimatstadt zurückgekommen, um sich ayurvedisch behandeln zu lassen. Ein Guru sei sein Vater gewesen, ein bekannter Heiliger mit vielen Ashrams in Mittelamerika.
    »Sie sollten ihn unbedingt besuchen. Nächste Woche kommen zwei seiner Jünger aus Venezuela hierher. Werden Sie so lange bleiben?«
    »Ich glaube, mir fehlt die Zeit«, erwidere ich vorsichtig. Deori scheint mir ein Ort wie gebaut zum Sterben. Ich stelle mir einen alten Mann vor, der in einem feuchten Schlafraum hinter dicken Vorhängen liegt. Ich stelle mir vor, wie er von fröstelnden, in Wolldecken gehüllten Venezolanern mit aztekischen Nasen mit warmer Milch und gefülltem Fladenbrot gepflegt wird.
    Die Treppe zum oberen Stockwerk knarrt, Tiwaris Frau huscht durch die Holztür, serviert uns Tee auf einem Tablett und verschwindet wieder schweigend. Wir sitzen schlürfend und frierend da. Wir schauen in den Regen, in die braune Brühe, die durch die Gosse strömt. Motorradfahrer und Lkw rasen vorbei. Tiwaris Kleinbusfahrer pinkelt in die Gosse gegenüber und wird dabei fast von Müll getroffen; eine Frauenhand kippt Plastiktüten und anderen Unrat aus einem Fenster über ihm.
    Tiwaris Frau tritt erneut durch die Tür und serviert einen süßen Brei, Dhalia, ein Gericht aus Hirse und Milch, es schmeckt wie Porridge. Eine junge, gebrechlich wirkende Frau mit ihrem vielleicht achtjährigen Sohn

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