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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Rahmen eines Austauschprogramms der Universität sei er schon mal in Schweden gewesen, er habe die Möglichkeit gehabt, in Stockholm einen langfristigen Job zu bekommen, eine Aufenthaltsgenehmigung. Aber das Angebot dann doch ausgeschlagen. »Mein Vater wollte, dass ich zurückkomme.«
    Während Amit erzählt, kreiselt sein Finger unentwegt auf mich gerichtet vor seinen übereinandergeschlagenen Knien herum, eine irritierende, typisch nordindische Geste. »Bei euch in Europa muss immer alles so schnell gehen«, sagt er. »Wir haben einen viel langsameren Lebensstil. Weil die Familie für uns wichtig ist. Wer als Mutter oder Vater immer mit dem Auto, mit dem Flugzeug oder der Bahn unterwegs ist, der kann ja gar keine Familienbindung haben. Er kann ja jederzeit einen Unfall haben und sterben.«
    Ich weiß nicht genau warum, aber die Situation beginnt mich zu ärgern. Vielleicht ist es seine penetrante Gestik, vielleicht sind es seine ostwestlichen Schwarz-Weiß-Erkenntnisse.
Oder auch nur das intensive Erleben, das das einsame Reisen durch die tiefste Provinz mit sich bringt, das Gefühl, meinem Gegenüber komplett ausgeliefert zu sein. Amit trinkt Whiskey zum Salat. Ich entschuldige mich nach einer Flasche extrastarkem Kingfisher-Bier. Er steckt die angetrunkene Flasche Whiskey in die Innentasche seines Parkas, bevor er geht.
    Am nächsten Tag verkrieche ich mich in meiner Suite und beschließe abzuwarten, bis das Wetter besser wird. Das Paradise Hotel ist meine Burg. Die Ruhe zwischen seinen Mauern ist meine Zuflucht, ein nirvanisches Nirgendwo tief im Nebel. Ich mache einen kleinen Spaziergang durch den leeren Komplex: ein Kaufhaus im Erdgeschoss, in dem junge Paare flanieren, eine Bar, in der zwei verlorene Graubärtige Longdrinks schlürfen. Mittags schalte ich den Fernseher ein. Es läuft eine Dokumentation über die Terroranschläge in Mumbai, in der das Wort »Pakistan« in jedem zweiten Satz des Sprechers fällt, dann ein Bericht über einen Mann, der sich in Bhopal angezündet hat. »Aus Liebeskummer«, heißt es. Menschenmassen laufen im Vordergrund vorbei, ein Mann löst sich aus der Menge und streut eine Handvoll Sand auf den Brennenden. Ein anderer rennt hinterher und kippt einen Eimer Wasser auf die Flammen. Dann erst erscheint ein Mann mit einem Tuch oder einer Flagge und wickelt den Lebensmüden darin ein. Bis zum Abend regnet es ununterbrochen. Langsam füllt sich der Parkplatz unter meinem Fenster. Nach und nach strömt eine Schulklasse durch die Hintertür, Jungen und Mädchen, die Fotos schießen, vermutlich die Abschlussfeier einer weiterführenden Schule.
    Am zweiten Tag in Sagar wird der Regen weniger. Am Nachmittag versuche ich, ein englisches Buch zu kaufen. Das Dreiradtaxi rast zwischen den Vierteln Makronia und Civil Lines hin und her, eine zerpflückte Ansammlung von Vororten
voller Kasernen und Militärakademien, dazwischen Läden, in denen die Soldaten Kleidung kaufen können: Jogginghosen und Kunststoffjacken hängen vor den Geschäften an Bügeln und Ständern. Ein Schild weist zum Schneider, ein anderes, wie ich mit Erstaunen lese, zum Beauty-Parlour. Honor, Dignitiy and Pride steht auf einer Betonwand in einem Kaserneneingang, daneben rollen drei Panzer kaschmirisch aussehende Berge hinauf.
    Erst in der eigentlichen Stadt werde ich fündig. Sagar ist eine Großversion der für Madhya Pradesh typischen Dörfer am See. Das riesige Gewässer am Rand der Altstadt ist von einem roten Metallgitter flankiert, auf dem regennasse Spatzen sitzen. Die trübe Flut leckt an den Fundamenten bunter Villen, gelbe, rosafarbene und rote Wasservögel paddeln durch den Hintergrund. In der Buchhandlung entscheide ich mich für das Buch Mistaken Identity von der Nehru-Nichte Nayantara Sahgal, die ich in Dehra Dun treffen möchte. Der Händler gibt mir aus unerfindlichen Gründen fünfzehn Prozent Rabatt. Ich werde kaum mehr davon lesen als das erste Kapitel, in dem ein junger adliger Inder nach langem Auslandsaufenthalt in seiner Heimat in einem erbärmlichen Provinzknast landet.

Klumpfuß
    Hinter Sagar durchbrechen nur noch einzelne braungraue Hügelketten die grüne Ebene. Die Weizenfelder sind von Stein- und Dorngestrüppmauern begrenzt, aus denen immer wieder Bäume ragen. Die blätternden Fassaden in den kleinen Dörfern verschwinden im dünnen, bodennahen Nebelschleier. Auf einer großen Tamarinde hocken drei Geier. Selten höre ich einen Raben von einem Hausdach oder Feld krächzen, ein Baby in

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