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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Mittagsschlaf einen Traum weiterträume, den ich zwanzig Jahre zuvor begonnen habe: Ich bin irgendwo in der Mitte des indischen Subkontinents, ich wandere durch eine satte, grüne Landschaft auf einen lang gezogenen Bergzug über einem dunklen Tal. Zwischen moosbewachsenen Felsen, über Farnen und Rhododendren klettere ich durch die triefnassen Wälder. Das Wetter ist sommerlich, die Luft warm, nirgendwo war Wandern je angenehmer. Aber ich habe keine Ahnung, wo ich bin.
    Seit ich diesen Traum zum ersten Mal hatte, kehrt er immer wieder unerwartet zurück, das Déjà-vu eines Déjà-vu. Und jedes Mal wenn ich erwache, frage ich mich, ob dieser Ort real ist. Doch jetzt öffne ich die Augen und Innenwelt und Außenwelt fallen zusammen. Ich erblicke genau das, was ich im Schlaf gesehen habe. Ich bin im Indien meiner Träume angekommen, denke ich, als ich mich wieder auf mein raschelndes Bett aus Teakblättern lege.
    Die Straße führt hinab durch den Wald und dann hinaus über Felder und geradewegs nach Narsimhapur. Aus Hirsefeldern ragen Vogelscheuchen mit den bleichen Schädeln von Rindern oder Ziegen. Ich grüße eine Frau und ihr Kind, die mit krummem Rücken in einem Feld arbeiten. Sie bückt sich rasch wieder zu ihrer Arbeit. Als ich auf einen kleinen Kiosk zugehe, flüchten die Frauen, die am Tresen standen, verstecken sich in Nebengeschäften und unter ihren Kopftüchern. Eben noch war ich so glücklich, das Land meiner Träume gefunden zu haben. Jetzt sehe ich: Dies ist der indische Norden, dessen Machokultur vielleicht noch viel ausgeprägter ist als die des Südens. Solche Szenen habe ich auf meiner ersten Reise nicht erlebt. Hier, in den ländlichen Gebieten am Rand des zentralindischen
Plateaus, zeigt sich besonders deutlich, dass die Emanzipation der Frau in Indien eine Idee aus einer fremden Welt ist. Sie hält erst mit einem Mindestmaß an Bildung und Wohlstand Einzug.
    Der Naturmediziner Deepak hat ein Netz von Kontakten für mich ausgelegt, an dem ich mich auf dem Weg nach Norden entlanghangele. Der Inhaber des Hotels Pratap in Narsimhapur lässt mich vor den Toren der Stadt abholen. Er hat mit dem Doktor zusammen studiert. Er gibt mir ein komfortables Zimmer mit Blick über die Hauptstraße auf den Kricketplatz. »Ruhig sind alle Räume hier«, behauptet er, während ein Ansager mit Megafon die Punktestände über den stillstehenden Straßenverkehr hinweg durch die einfach verglaste Fensterfront hinüberschmettert. Der Mann heißt Kamal Singh, er ist rundlich wie Deepak, aber mit Pullunder, Bundfaltenhose und Schnauzer eine wesentlich seriösere Erscheinung; ein stattlicher zentralindischer Herr. Ein Landbesitzer, wie er betont: »Wir betreiben dieses Hotel hier, um dem Ort etwas Gutes zu tun. Es läuft von selbst, wenn ich den Boys sage, was zu machen ist. Eigentlich sind wir Bauern.«
    Singh fragt, ob ich irgendwelche Wünsche habe, und ich erzähle ihm von meinen Beschwerden am Fuß. »Ich kenne einen guten Arzt«, erwidert er. »Wir können ihn später besuchen.«
    Um kurz vor sieben holt Kamal Singh mich in meinem Zimmer ab. Sein Arzt praktiziert in einer kleinen Villa in einem ruhigen Wohnviertel im Zentrum der Stadt. Er ist Homöopath, eine westliche Erscheinung, das gebügelte Hemd unter einem Sakko, die Haare streng zurückgekämmt. »Was Ihrem Fuß zusetzt, ist die starke Belastung. Machen Sie öfter Pause, fahren Sie mal Auto, bummeln Sie durch die Orte, die Sie besuchen, lassen Sie es sich gut gehen.« Seine Stimme ist
hoch und eindringlich. Er zeigt auf die Arzneimittelsammlung in einer Glasvitrine an der Wand über ihm: alte Fläschchen der Deutschen Homöopathie-Union, fein säuberlich aufgereiht. Bei näherem Hinsehen sind alle Medikamente seit mindestens drei Jahren abgelaufen.
    Der Doktor betrachtet meine Fingernägel, er konstatiert Eisen- und Phosphormangel. Er gibt mir zwei kleine Plastikröhrchen mit, in denen er Globuli in Wasser getränkt hat, einmal Tuja, einmal Arnika. Die Röhrchen scheinen undicht zu sein, das nach Alkohol riechende Wasser tritt aus. »Nehmen Sie die je dreimal am Tag.« Siebzig Rupien berechnet er mir mit einem Beleg in dreifacher Ausführung . »Eines kann ich Ihnen aber versichern«, sagt er, als wir vor der Villa wieder ins Auto steigen. »Ihr Fuß ist nicht gebrochen.«
    Kamal Singh fährt mich in ein Restaurant in einem Vorort. Es wirkt wie das misslungene Ergebnis des Versuchs, einer indischen Provinzstadt Weltstadtatmosphäre einzuhauchen. Der

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