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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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der Ferne schreien. Nur wenige Autos fahren vorbei. Es ist fast still, und ein kräftiger Nordostwind kommt auf.
    Eine Woche lang laufe ich Jhansi entgegen. Der ersten größeren Stadt seit Nagpur. Dem nördlichen Rand der zentralindischen Provinz. Dem südlichsten Vorposten des entwickelten Nordindiens. Dem Land der Softdrinks und langen Speisekarten, so hoffe ich jedenfalls.
    Die Szenen unterwegs wiederholen sich. Fahrräder tauchen aus dem Nebel auf, getreten von fröhlich plappernden, uniformierten Schuljungen. Auf dreirädrigen Kindergartenrikschas hocken winkende Mädchen und Buben. Kükentransportrikschas sind beladen mit durchlöcherten Pappkartons, aus denen orangefarbene Schnäbel lugen. Lastwagen, Busse und Jeeps rauschen klappernd und knirschend durch teichgroße Matschpfützen, wo die Straße wegen Bauarbeiten auf den Seitenstreifen geleitet wird. Alle paar Kilometer bedient eine Gruppe von Arbeitern einen Straßenfertiger des deutschen Herstellers Vögele oder eine Walze, macht kollektiv Mittagspause unter
einem Busch oder gießt Beton in die Verschalungen einer Brückenkonstruktion. Aus den Dörfern blicken verhärmt aussehende Frauen auf die Straße; junge wie alte sind verhüllt. Sie wirken abgekämpft und streng. Fast wie Männer.
    Malthon ist der letzte Ort vor der Grenze des Bundesstaates Uttar Pradesh. Ich schlafe noch einmal in einem PWD-Guesthouse. Die Landstraße führt mitten durch den Ort. Sie ist gesäumt von Stahlträgern, die aus Betonfundamenten ragen. Die Siedlung selbst versteckt sich fünfzig Meter jenseits der Landstraße. Im Bauchaos am Straßenrand sind vereinzelt halb mobile Teestände und Läden zu entdecken, in denen Pan verkauft wird, eine in Betelblätter gewickelte Süßigkeit mit Arecanuss. Als ich eintreffe, ist es stockdunkel.
    »Nur von halb neun bis halb zwölf abends gibt es hier Strom«, sagt der Mann, der das Guesthouse betreibt. Ich soll mich registrieren lassen, verlangt er. Aber er ist unschlüssig, wo. Ich schlage vor, es in der Polizeiwache nebenan zu versuchen, und er stimmt zu. Vier Beamte sitzen im dunklen Vorraum der Wache um eine offene Feuertonne und fordern mich auf, Platz zu nehmen, Tee zu trinken. Sie halten mir ein Buch hin. Ich verstehe die Überschriften auf Hindi über den einzelnen Rubriken nicht ganz. Aber ich merke auch, dass sie nicht lesen können, was ich in lateinischen Buchstaben hineinschreibe, und lasse meiner Fantasie freien Lauf.
    In der Dunkelheit vor dem Eingang zum Guesthouse treffe ich auf ein Straßenrestaurant. Im Schein von vier flackernden Kerzen trinke ich einen Tee. Der Koch fragt mich, was ich an Indien mag. Dass es kultiviert ist, sage ich. Dass selbst die einfachsten Menschen ein gewisses Maß an Anstand haben. Dass man zum Beispiel nicht ständig fürchten muss, bestohlen zu werden. Zumindest außerhalb der Großstädte. Ich erzähle ihm, dass mir bisher nie etwas geklaut wurde in diesem Land.
Außer meiner Kamera im letzten Winter in Südindien. Dass ich öfter mal Hotelzimmertüren offen stehen lasse. Oder mein Gepäck vorübergehend Fremden anvertraue. »Ich würde das nicht tun«, mahnt er. »Aber vielleicht ist das auch ungefährlicher für dich. Du bist ein Ausländer. Wenn jemand erwischt wird, der dich beklaut hat, gibt es großen Ärger. Wenn ich bestohlen werde, muss ich die Polizisten bestechen, damit sie etwas unternehmen.«
    Der Strom geht wieder an, das kleine Teehaus wird nun von einer Reihe baumelnder Glühbirnen beleuchtet. Ich beobachte den schlaksigen Mann vom Pan-Kiosk nebenan. Wie ein Huhn lugt er ein letztes Mal aus seiner Box, einem schlanken Rechteck auf vier Stangen, ob noch ein Kunde seiner Bude entgegenstrebt, bevor er unten aus der Verkaufskiste herauskriecht, die Läden verschließt und über eine kleine Mauer hinab in den Ort läuft.
    Das Guesthouse in Malthon ist exakt so aufgebaut wie meine Unterkunft Nächte zuvor in Harrai. Nur dass hier die Betten und Stühle mit weißen Laken bezogen sind. Und dass keine Wand gerade ist, kein Winkel exakt. Der längliche Raum wirkt, als würde er wanken. Unter den weiß lackierten Holzbohlen komme ich mir vor wie auf einem Schiff, ein wohliges, verlorenes Gefühl.
    Ich setze mich auf die rückwärtige Terrasse vor meinem Zimmer und untersuche meinen Fuß. Die Beschwerden haben in den vergangen zwei Tagen zugenommen, der Fuß ist jetzt deutlich geschwollen. Ich schlucke weiter Aspirin. Im Licht meiner Taschenlampe lese ich ein Kilometerschild auf dem

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