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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Parkplatz gegenüber: Delhi 650, Gwalior 233, Jhansi 129. Ich muss dringend eine Lösung für meine schmerzende Ferse finden.
    Am nächsten Morgen laufe ich durch ein kleines Tal die letzten Hügel hinab nach Uttar Pradesh. Ein doppelter Torbogen aus Beton markiert die Grenze zu jenem Zipfel des Nachbar-Bundesstaats, der sich nach Madhya Pradesh hineinstreckt.
    Hinter der Grenze ist das Land endgültig flach, nur ein leichter Dunst liegt vor der Sonne, die über den dunkelgrünen Senffeldern in den Himmel steigt. Uttar Pradesh, der »Nördliche Bundesstaat«, ist voller Kühe und Büffel. In engen Höfen an den Dorfstraßen käut das Vieh zwischen Hügeln von Kuhfladen wider, die zum Trocknen aufgeschichtet sind. Die zweigeschossigen Häuser sind aus roten Ziegeln gebaut. Verwitterte weiße Tempelchen ducken sich neben schlichten Scheunen. Auf einem Charpoy, einem Bettgestell aus Holz, trocknet Getreide. Auf einem anderen schläft ein struppiger Hund.
    Zurückhaltend und sanft wie tief im Süden ist in Uttar Pradesh niemand mehr. Ich wandere jetzt durch das Herzland des Hindi und der verwandten Sprachen. Durch einen Kulturraum, der früher Hindustan genannt wurde und von den fünf Strömen des Punjab im Westen über die Gangesebene bis hinab zum Fluss Narmada im Süden reicht. Ein Land, das über Jahrtausende hinweg überrollt wurde von Eroberern aus West- und Zentralasien. Rau und kalt im Vergleich zu der von dravidischen Sprachen dominierten Halbinsel Südindiens, deren Geschichte deutlich ruhiger verlief.
    Ein Mann, der vor einer Tankstelle auf dem grauen Sandboden hockt, reckt seine kräftigen Arme in der Morgensonne und ruft einem anderen zu, der hundert Meter weiter sichtlich untätig an der Straße herumlungert: »He, guck mal, da kommt ein Ausländer!« Ein weißer Kleinwagen ist irgendwo am Straßenrand gestrandet, davor lamentieren lautstark drei Männer mit weißen Hosen. »Komm her!«, rufen sie auf Englisch.
Sie lachen und pfeifen durch die Finger, während ein dritter mit dem Kopf im Motorraum steckt. »Wo gehst du hin? Wie ist die Straße nach Sagar?« Erst als ich sie auf Hindi frage, was denn das Problem mit ihrem Auto ist, werden sie gesittet und ernst.
    Auf dem Weg nach Lalitpur zähle ich sechs Eselkadaver am Straßenrand. Am Abend lasse ich mich in der Stadt von einem einfühlsamen Friseur pflegen. Mit einem eleganten Doppelschwung kämmt er meine nass gesprühten Locken glatt. Im Spiegel sehe ich mit Mittelscheitel aus, als wäre ich zwölf Jahre alt. Nach meinem 35-Kilometer-Marsch schlafe ich fast vor Erschöpfung ein, während der Mann mit der Schere um mich herumklappert und seine Mitarbeiter vor dem Laden ein Feuer gegen die Winterkälte entzünden.
    Mit jedem Kilometer weiter nach Norden werden die Menschen ausgelassener, wenn sie mich sehen. Sie grölen mir hinterher, sie verfolgen mich. Auf dem Weg zwischen zwei Dörfern radeln zwei Jungen auf einem Fahrrad im konsequenten Sicherheitsabstand von zehn Metern hinter mir her. Eine geschlagene halbe Stunde lang zischeln und pfeifen sie: » Hello my dear. Where are you going ?« Bis ich die Contenance verliere. Ich zeige ihnen die Faust, ich schimpfe, sie sollen verschwinden. Aber erst nach einer Stunde geben sie die Verfolgung auf.
     
    In der Kleinstadt Talbehat finde ich kein Hotel. Ich frage bei Nakshara Cosmetics. »Nein«, sagt der Verkäufer. »Hier gibt es keine Lodge und kein Guesthouse.« Ich frage im Devi Book Dipot. »Doch«, sagt der Buchhändler. »Einen Kilometer in Richtung Jhansi finden Sie ein Government Guesthouse. « Ein kleiner, schmaler Mützenträger heftet sich an meine Fersen. »Ich zeige Ihnen den Weg. Ich will dafür kein
Geld, aber es ist sicherer. Sie müssen wissen: In diesem Ort gibt es viele Ganoven.«
    Nach ein paar Hundert Metern rollt ein überbreiter schwarzer Geländewagen an mich heran, aus dem Fenster quillt ein korpulenter, glatt rasierter Mann, die moderne Karikatur eines orientalischen Potentaten: ganz in Weiß gekleidet, den Bart gezwirbelt, einen Turban auf dem Kopf. Er winkt uns hinein, ich soll seinem pausbackigen Sohn die Hand geben. Vor dem Government Guesthouse hält die Edellimousine. »Das war ein Toppolitiker des Ortes«, erklärt mein Führer, als er die Tür zugeschlagen hat.
    Das Guesthouse ist eine Luxusversion der PWD-Unterkünfte, in denen ich in Harrai und Malthon geschlafen habe. Die Böden glänzen frisch gefeudelt. Ich würde gern umgehend in eines der vermutlich pieksauberen

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