Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Zentimeter lang. Ich frage nach einem Glas Wasser und schlucke die Medizin, dazu eine kleine Magenpille. Der Apotheker fragt mich, wo ich schlafen werde. »Im Dharamsala? Willst du nicht lieber bei mir übernachten?«
Ich ziehe um in einen höhlenartigen Raum, der nur durch eine Tür mit zwei dicken Holzflügeln von der Durchgangsstraße getrennt ist. Keine zwei Meter von meinen Bett entfernt rasen Autos durch die Nacht. Jedes Mal, wenn ein Lkw vorbeifährt, bebt der beige Stoffvorhang an der Tür. Es riecht muffig. Irgendwo in der Wand raschelt eine Maus.
»Dieses Zimmer ist über hundert Jahre alt«, sagt mein Gastgeber. »Es gehört zum Fort von Talbehat. Es wurde Mitte 1618 von einem Fürsten namens Bharat Shah errichtet.«
Die Decke des Raumes wird von durchhängenden Holzbalken gehalten, von denen weißer Lack fällt. Die Wände sind lila und mit Stuck geschmückt. Vier Kanthölzer ragen als Kleiderhaken aus der Wand. Über einen von ihnen ist ein froschgrüner, geknoteter Schlips geworfen. Auf dem Tisch liegt ein ungeöffneter Brief, andressiert an »Doktor Agnihotri«. Die meisten indischen Namen geben Auskunft über Religion und Kaste. Dieser ist eindeutig brahmanisch. »Priester des Feueropfers« bedeutet er.
Der Apotheker verlässt das Zimmer, ich werfe meinen Schlafsack auf das Bett. Mit einem Handy in der linken Hand, aus dem eine monotone Männerstimme scheppert, kommt er wieder und stellt mir mit der Rechten einen Eimer hin. »Warmes Wasser mit Salz. Der Doktor sagt, das ist das Allerbeste für dich.« Ich tauche meinen Fuß hinein, ich bewege die Spitze hin und her, schwenke ihn vorsichtig nach rechts und links. Es fühlt sich angenehm an, aber das seltsame, fast
unhörbare Quietschen, das papierene Ziehen in der Ferse spüre ich weiterhin.
Nach dem Fußbad führt mich mein Gastgeber durch die Katakomben des Forts zu einer Waschkabine. Ein Labyrinth niedriger Gänge schließt sich an offene und halb offene Innenhöfe an. Vor den einzelnen Wohnungen stapeln sich Schuhe auf dem Steinboden, in den Höfen parken Fahrräder und Mopeds. In der Kabine aus Stahlblech, an deren Wänden Zahnbürsten in rosa Plastikhaltern hängen, kippe ich mir aus einer vollen Eisentonne heißes Wasser über die verschwitzte Haut. Dann lasse ich mich vom steten Durchgangsverkehr in einen erstaunlich tiefen Schlaf wiegen.
Am nächsten Morgen sind die Beschwerden im Fuß wie weggepustet. Meine Hacke ist komplett abgeschwollen. Ich könnte meinen Gastgeber umarmen.
Aber der ist nirgendwo in den Katakomben der Fortmauer zu sehen. In einem gepflasterten Innenhof serviert die Bedienstete der brahmanischen Brüder mir Tee und Kekse und mit Kartoffeln gefüllte Paratha, Brottaschen. Ich beobachte zwei weiße Schmetterlinge in den Gräsern und Blumen, die über die rückwärtige Mauer in den Hof wachsen. Und breche wieder auf.
Jenseits von Talbehat führen hübsche Alleen unter ausladenden Bäumen durch Flüsse, Felder und Hügel, die sich mit von Büschen bestandenem Brachland abwechseln. Ich überquere die Grenze zurück nach Madhya Pradesh und verbringe eine Nacht in der Stadt Babina. Als ich am folgenden Abend die Großstadt Jhansi erreiche, fühle ich mich wie ein seltsamer Wissenschaftler, der aus dem Busch kommt, ein Ethnologe oder ein Forscher auf der Suche nach irgendeinem seltenen Vogel oder einem antiken Tempel. Ich kehre aus
dem unbekannten Herzen Hindustans zurück in die Zivilisation.
Der Weg nach Jhansi hinein führt, wie eine Woche zuvor der nach Sagar, durch ein Militärviertel. Vor den Toren der Fünfhunderttausend-Einwohner-Stadt stellt die Armee ihre Kriegsmaschinerie aus. Ausrangierte Panzer verschiedener Bauweisen thronen auf Betonpodesten. Irgendwo zwischen den Kasernen steht eine massive Backsteinkirche, vermutlich noch von den Briten gebaut.
Die Stadt selbst kommt mir nach der ärmlichen Provinz Zentralindiens geleckt und geordnet vor. Ich laufe über gefegte Seitenstreifen, ich passiere Bushaltestellen mit Reihen komplett unbeschädigter Stahlstühle. Und werde ständig von Dreiradtaxifahrern angesprochen, die alle denken, dass ich nur darauf warte, in den Ort Orcha, eine für ihre einzigartigen Paläste und Tempel berühmte Kleinstadt 60 Kilometer entfernt, gefahren zu werden.
Vermutlich, weil Jhansi dagegen reichlich unspektakulär ist. Durch den Dunst über nichtssagenden, breiten Ausfallstraßen blicke ich auf die klotzigen Umrisse des Forts über der Stadt, erbaut 1613, in dem bei einer
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