Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Revolte im Jahr 1857 die Getreuen der Königin von Jhansi die Offiziere der britischen Kolonialverwaltung massakrierten, die den Kleinstaat annektiert hatte. In einem Internetcafé im Stadtzentrum, einer Ansammlung niedriger Backstein- und Betongebäude mit den üblichen Rolltoren aus Metall, checke ich meine E-Mails. In einem Hotel mit kolonialem Ambiente, das von einer freundlichen Großfamilie betrieben wird, finde ich eine passable Unterkunft.
Endlich habe ich den zentralindischen Dschungel hinter mir gelassen und bin zurück in der Moderne, auf die ich mich so gefreut habe. Doch der Traum vom Land der kühlen Softdrinks
und gastronomischen Genüsse zerplatzt jäh, als er greifbar wird. Im Korbstuhl auf der Veranda meines Hotels trinke ich nur eine Flasche Cola und kehre sofort wieder zurück zum üblichen Instantkaffee. Ich lausche dem Rauschen des sechsspurigen National Highway 75, einer Landstraße, die, von Südosten kommend, mitten durch die Stadt führt und auf der ich am nächsten Tag laufen werde. Und frage mich, wie ich eigentlich auf die Idee verfallen bin, mir, wenn ich endlich in Jhansi bin, den Bauch mit Eis vollzuschlagen, mit 7up oder Importbier. Vielleicht war es die ständige Unterzuckerung beim Wandern, vielleicht auch die Sehnsucht nach europäischer Rundumversorgung, die sich in diesen Träumen manifestierte. Aber in Wahrheit ist all das überflüssig. Ich bin mit viel weniger Luxus glücklich. Und froh, jenseits des Dschungels und der Berge nicht den Lärm einer Millionenmetropole gefunden zu haben. Sondern die typische Bescheidenheit einer zivilisierten nordindischen Großstadt.
Gottlos
Außerhalb von Jhansi ist der Ausbaustreifen der Landstraße mit einem Zickzack aus Feldsteinen gegen vorzeitiges Befahren geschützt. Massen von Menschen sind am frühen Morgen darauf unterwegs zu Fuß und mit dem Fahrrad, während unten auf der Trasse stundenlang Truppentransporter vorbeidröhnen, in denen Soldaten schlafen, die Füße in Socken über die Ladefläche hinausgestreckt.
Ich passiere wieder die Grenze nach Madhya Pradesh. Wieder ist es dunkel. Als dürfe es in diesem Staat kein direktes Sonnenlicht geben, schiebt sich Hochnebel in den zuvor blauen Himmel. Das Land wird wüst und rauer. Hier und da ragen nackte Hügel und rot-weiße Mobilfunkmasten aus der tellerflachen Steppe, wenige Reisfelder leuchten grün dazwischen. Gegen Mittag überquere ich mehrere große, schnurgerade Kanäle, die das magere Land speisen, und dann einen kleinen Fluss, der durch ein Wäldchen fließt, und stelle mir vor, wie schön er einmal gewesen sein mag, bevor er von der Masse von Plastiktüten, Plastikflaschen, Schuhen, Kisten und anderem undefinierbarem Müll verunstaltet wurde.
Nicht nur die Hitze hat hier im äußersten Norden Madyha Pradeshs nachgelassen, auch liegen die Ortschaften wieder dichter beieinander. So laufe ich zum ersten Mal auf der Reise komplett ohne Wasserreserven im Rucksack, hangele mich von Teestube zu Teestube, von Softdrinkladen zu Brunnen. Mein Gepäck ist um zwei, drei Kilo leichter.
Und ich spüre keine Anstrengung mehr. Ich renne 15 Kilometer am Stück und mache nur fünf Minuten Pause, bevor ich weiterlaufe. Ich verschlinge Unmengen von Bananen, Keksen und Samosas im Gehen. Und merke gar nicht mehr, dass ich ständig in Bewegung bin, sechs Stunden am Tag wenigstens, manchmal mehr als acht. Die Schmerzen im Fuß sind dank der Medizin aus Talbehat verschwunden. Das Laufen ist, so wie ein Jahr zuvor in der Steppe des südlichen Andhra Pradesh, zu meinem Normalzustand geworden. Es ist das für mich, was Stehen für andere Menschen ist.
Ich erreiche Datia am Nachmittag. Die Altstadt wirkt wie ein Fort. Im Ortseingang hängt noch eines von zwei Eisentoren an einem zerbröckelnden Steinpfeiler. In den historischen Fassaden drängeln sich Fernseh- und Internetläden neben Banken und Juwelieren, Schneidern und den üblichen Kaufmannsläden. Säulengetragene Kuppeln und Zwiebeltürme verleihen dem Palast, der sich mit sechseckigen Wehrtürmen und rechteckigen Fensterlöchern über der Altstadt erhebt, einen absurden Hauch von Leichtigkeit. Im Nachmittagslicht leuchtet das gewaltige, siebenstöckige Bauwerk auf einem Hügel, an den ein See grenzt, und scheint über der Stadt zu schweben.
Ich gehe den Palast besichtigen. Ein Mann mit einer Schirmmütze führt mich in die kühle Dunkelheit hinter den halbmeterdicken Palastmauern. Mit einer riesigen Taschenlampe leuchtet er mir die
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