Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
asymmetrischen Gebilden. Villen und Parks säumen sechsspurige Hauptsraßen, an denen Reihen von Hinduasketen und Sufis schlafen. Scharen von Bettlerinnen umlagern die modernen Kaffeehäuser am Sadar-Markt. Affenherden seilen sich von Stromleitungen ab.
Neben Russen mit Videokameras und Briten in kurzen Militärhosen quetsche ich mich die Mauern des Roten Forts entlang zum Taj Mahal. An der Sicherheitsschleuse beobachte ich einen greisen Rajasthani, dessen gewaltiger Turban durchsucht wird. Er bietet an, den langen Bart abtasten zu lassen, doch der Security-Mann lehnt lachend ab. Ich flaniere neben muslimischen Familienvätern mit weißen Kappen zwischen den Wassergräben und setze mich zu fotografierenden Japanerinnen auf Steinbänke.
Mit Blick auf den Fluss Yamuna kehre ich den Massen den Rücken. Sanft strömt der Fluss zwischen Sandstreifen dahin, makellos weiß glänzt der Taj zu meiner Rechten: eine architektonische Schönheit, die den Tod segnet. Schlicht und rein. Wie das Wort Gottes für den, der daran glaubt. Eine blendende Mischung aus hinduistischer und islamischer Baukunst.
Und genau diese kulturelle Mischung ist es, die mich an der Stadt interessiert. Agra ist ein Zentrum der mittelalterlichen Fusion aus beiden Religion. Vom 15. bis ins 19. Jahrhundert war es mit mehreren Unterbrechungen Hauptstadt des Mogulreiches, deren Herrscher Toleranz unter den Religionen predigten. In dem Hindus und Muslime fast gleichberechtigt waren. In dem Glaubensrichtungen wie der Sikhismus, der Sufismus und die Bhakti-Bewegung der Gottesliebe entstanden, religiöse Strömungen, die den Monotheismus des Islam mit klassischen hinduistischen Theorien verbanden. Gesamtindische Religionen sozusagen, die das Kastensystem ablehnen. Die bis heute als liberal und offen gelten.
Ich will wissen, ob das wirklich stimmt. Am nächsten Morgen bin ich auf dem Weg nach Dayal Bagh. Der »Garten der Gnade« ist das Viertel der Radhoswami, der Anhänger einer Reformbewegung, die ihre Wurzeln im Hinduismus wie im Islam hat. Auf der Hauptstraße des Quartiers tragen alle Läden Namen mit religiösem Beiklang. Dayal Motors verkauft Kleinwagen, die Dayal Lodge bietet Unterkünfte für Gläubige an, Dayal Ladies handelt mit Saris für gläubige Damen. Eine homöopathische Apotheke preist »Schwabe Arzneimittel« an, in einem Café wird die Eiskrem des großen indischen Herstellers Amul als probiotische Variante verkauft. Ein Schild der »Radhoswami Urban Co-Op Bank« prangt über einer Reihe Gemüsehändler, die ihre Produkte auf dem Sandstreifen vor einem leeren Gelände ausbreiten.
Vor einer roten Ziegelmauer streben Menschenmassen einem schlichten Ziegelgebäude zu: westlich wirkende Männer mit schwarzen Lederjacken und Schiebermützen, Frauen in braunen Saris und groben Decken, alle sind schlicht gekleidet, viele sitzen auf Fahrrädern. Die Gläubigen sind auf dem Weg zum Satsang, zum Zusammentreffen mit dem Guru. Der
Meister rollt in einer glänzenden Limousine ein, die Masse strebt kurz auseinander. Zwei uniformierte Ordner leiten die Menschen durch ein grünes Metalltor und achten darauf, dass die Zweiräder in einer Reihe im »Cycle Park« abgestellt werden. Kaum jemand beachtet mich, als ich in den Hof vor dem Tempel trete; ich gehe fast unter in dem Menschenstrom. Es scheint, als sei jeder mit sich selbst beschäftigt. Aber auch ein wenig, als wären die Gläubigen ferngesteuert. Aus dem Tempel erklingt leiser Gesang. Seine kleinen spitzen Türme erinnern mich an protestantische Kirchen.
Zwei Männer stehen mit großen Mappen, in die sich einzelne Besucher eintragen lassen, gegenüber dem Tempel. Ich frage sie, ob ich am Satsang teilnehmen darf. »Ja, wir holen nur das Einverständnis eines Zuständigen«, sagt einer von ihnen. Fünf Minuten später kehrt er zurück, an seiner Seite ein großgewachsener etwa sechzigjähriger Sikh, der leicht gebückt geht. Mit einer linkischen Bewegung passiert er mich. Dann wendet er mir endlich sein ausgemergeltes Gesicht zu, ohne mir richtig in die Augen zu schauen, eine linkische Geste: »Was wollen Sie hier? Hier gibt es doch nichts Besonderes zu sehen.«
»Doch, doch«, sage ich. »Die Radhoswami-Religion ist einzigartig. Ich würde gern beim Satsang dabei sein, beim Gottesdienst.«
»Haben Sie einen Guide?«
»Wozu soll ich den brauchen?«
»Wer keinen Guide hat ist nicht seriös.«
»Ich komme allein klar.«
»Nein, tut mir leid, Fremde sind hier nicht erlaubt«, sagt er und weist in
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