Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Wiesen im Ortszentrum treiben. Ich passiere im Gefolge überladener Ochsenkarren und Kamelwagen Mautstationen, in die Lastwagen sich in Schlangen einreihen; so unbewegt und lang sind sie, dass Krähen auf den Relingen der Ladeflächen landen. Reihenweise lachen sie zu mir hinab. Nur vereinzelt sind Fußgänger auf dem Highway unterwegs, ich gehe allein, ich falle kaum auf. Eine Attraktion zwar als Wanderer im Maschinenverkehr für vereinzelt hupende Chauffeure und Teestubenköche. Aber dass es ein Ausländer ist, der da am Wegesrand geht, wirft so nahe der Hauptstadt niemanden aus der Spur.
Auf diesem Abschnitt folge ich nicht exakt der Route des Great Trigonomical Survey. Everests Mitarbeiter berechneten zwar die Lage wichtiger Orientierungspunkte wie die des Taj Mahal, des Mausoleums des Mogulherrschers Akbar am Rand von Agra oder der Palastanlagen von Fatehpur Sikri im Westen der Stadt. Aber ihre eigentliche Vermessungsstraße
lag zwischen Gwalior und einem Punkt kurz vor Delhi etwa 50 Kilometer westlich meiner Route.
Das Land, von dem ich dachte, es sei bereits flach, wird noch flacher, je näher ich der Hauptstadt komme. Kein Hügel ragt mehr aus der Ebene, alle landschaftlichen Linien verlaufen schnurgerade zum diesigen Horizont. Nur menschliches Werk erhebt sich über die Steppe, über Viehweiden, Weizen-und Reisfelder. Immer höher werden die Neubauten. Immer seltener die Eukalyptushaine.
Und immer erstickender der Verkehr. Vielleicht habe ich mir in Agra eine Erkältung eingefangen. Vielleicht sind es die Abgase: Mit zunehmendem Kratzen im Hals und immer kurzatmiger rücke ich jener Zwölf-Millionen-Metropole entgegen, die bis heute die Liste der größten Luftverpester weltweit anführt. Jeder Kilometer durch die emissionsgeschwängerte Luft dürfte mich einen Tag meines Lebens kosten.
In Faridabad erreiche ich den Großraum Delhi. Die ersten Shoppingkomplexe, sechsstöckige Paläste aus Glas, vor denen sich Blechhütten ducken. Das Perfect Eye Hospital und die Apollo Hospitals. Die universellen Autohäuser von BMW und Chevrolet. Die Fahrer der Dreiradtaxis feudeln beim Halten an der Ampel ihre Armaturen. Büromenschen stecken mit Motorrollern im stockenden Automobilfluss fest und kämmen sich die Haare oder zünden sich Zigaretten an. Baumaschinen und Bagger, Autos und Lkw wälzen sich der Stadt entgegen. Immer zäher wird der Verkehr, bis er zehn Kilometer vor der Stadtgrenze in einen einzigen Stau mündet, in den magersüchtige Händler »Namkin« hineinbrüllen, um ihr Salzgebäck an die Wartenden zu bringen. Und in dem Buchhändler den Weißen Tiger von Aravind Adiga schwenken, in der zweifelhaften Absicht, gerade mit dieser, das Elend und den Dreck des Landes aufwühlenden Lektüre
jenen Privilegierten, die einen Fahrer haben, das Warten unterhaltsamer zu machen.
In Delhi komme ich in einem gepflegten Hotel im Bahnhofsviertel unter, in dem ein Paschtune mit Turban, den Rosenkranz auf dem gebückten Rücken, stundenlang betend, seine Runden durch die von goldenen Geländern gesäumten Flure dreht. Auf der dem Winterwind ausgesetzten Dachterrasse werden per Flachbildschirm Kricketspiele gezeigt. Ich falle schon am Nachmittag in das sauberste Bett seit Hyderabad.
Am ersten Morgen in der Stadt treffe ich George. Er ist ein Fremder wie ich. Ein Südinder. Ein Mann wie von einem anderen Stern. Klein, rundlich und pechschwarz steht er in der Rezeption, herablassend beäugt vom breitschultrigen nordindischen Personal mit gestutzten Schnauzern und in grauem Zwirn. George ist am Morgen mit dem Flieger aus Bangalore in Delhi gelandet, in der Hand trägt er einen Jutebeutel voll mit allen Tageszeitungen, deren er auf dem Flug habhaft werden konnte. Aus seinen beiden Ohren fusseln gelbe Ohropaxwattereste gegen den Reiselärm. Er arbeitet für eine Nichtregierungsorganisation. Er will mir zeigen, wie indische Senioren leben.
Wir fahren zur Paras Foundation im Süden Delhis. Jenseits eines Gewirrs von Ausfallstraßen, Autobahnzubringern und ausufernden Müllhalden, über denen große Raubvögel kreisen, biegt unser Taxi in ein Viertel am Stadtrand ab. Einstöckige Wohnhäuser mit Dachterrassen reihen sich aneinander, auf einigen lagern Kuhdungfladen zum Heizen. In einem Hof hinter einem metallenen Rolltor sitzen Senioren mit Ohrenmützen und Wolldecken in der Wintersonne. George bezeichnet das Haus als gutes Beispiel, als eine der wenigen funktionierenden Antworten auf die Probleme der
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