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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Richtung Ausgang.
    Auf dem Weg hinaus spricht mich ein Mann auf einem Fahrrad an. »Was machst du hier?«, fragt er. Ich erzähle, ihm dass ich mich für den Radhoswami-Glauben interessiere, dass
ich großen Respekt habe vor der indischen Philosophie. Aber auch abgestoßen bin von Kastenwesen und Diskriminierung im Hinduismus. »Na, dann sind Sie ja hier genau richtig. Setzen Sie sich auf den Gepäckträger. Aber machen Sie bitte keine Fotos, ja?«
    Der Mann heißt Devendra Chaturvedi. Er unterrichtet Elektrotechnik an der Universität des Ashrams. Seine weiche Gestik und die bedächtige Art zu sprechen erinnern mich an die frühen 1980er-Jahre, an Norwegerpullover und Latzhosen. Aber in seinen schwarzen Augen liegt ein gespenstisches Leuchten. Wir fahren wieder in die Anlage hinein. Gepflegte Sandwege führen zwischen gelben Ziegelhäusern hindurch.
    »Fünftausend Menschen leben hier«, sagt er. »Von der Geburt bis zum Tod. Sie kommen aus allen Religionen, Muslime, Christen, Hindus.«
    Hinter den Wohnanlagen liegen die Felder. Männer und Frauen hacken und jäten die schwarze Erde. Vor einer Sammelstelle reihen sich die Arbeiter in eine Schlange, um geerntetes Gemüse auf einen langen Tisch zu legen: Tomaten, Karotten, Kartoffeln. Daneben rattert eine Zuckerrohrsaftmaschine.
    »Jeden Morgen um vier Uhr dreißig treffen wir uns zum Gebet«, sagt Chaturvedi. »Dann beginnt die Arbeit auf dem Feld, danach der reguläre Job, dem jeder Einzelne nachgeht. Alles, was wir anbauen, ist hundert Prozent ökologisch. Im Ashram gibt es keine Autos, nur Elektrorollstühle für die älteren Bewohner.«
    Chaturvedi fährt mich über das Universitätsgelände. »Wir haben alle möglichen Fachrichtungen, Kunst und Sozialwissenschaften, Physik und Ingenieurswissenschaften. Wir arbeiten mit vielen Hochschulen weltweit zusammen, zum Beispiel mit der Universität von Maryland.« Vor dem Auto-Workshop
parken halb zerlegte Vehikel aus drei Generationen indischer Automobilproduktion: ein alter Ambassador, ein Jeep und ein Maruti-Kleinbus. Chaturvedi zeigt mir das Multimedia Laboratory, das Computer Center und den Sportplatz, auf dem sehr züchtig aussehende Mädchen in Schuluniform Basketball spielen. »Für uns sind äußere Dinge unwichtig«, sagt er. »Deshalb ist es den Studentinnen auch verboten, sich zu schminken.«
    Dann nimmt er mich in seiner Wohnung in einem unscheinbaren Betonbau auf der anderen Straßenseite mit. Über dem Sofa sehe ich ein Bild seines Gurus; er trägt ein blütenweißes Hemd und sieht sehr traurig aus. Daneben hängen ein Bild von Chaturvedis Familie in irgendeiner Großstadt in Nordamerika oder Europa und ein Thermometer im Holzstück; das Wort »Toronto« ist darauf gepinselt. »Wir haben besonders in Kanada viele Anhänger«, sagt er. Auch in Deutschland sei er schon einmal gewesen. »In Kiel, um eine Kooperation mit unserer Hochschule aufzubauen.« An der Universität des Ashrams unterrichte er Elektrotechnik.
    Leiser Gesang dringt durch die Haustür. Hinter einem Fliegengitter im Hintergrund wäscht jemand ab. Seine Religion sei wissenschaftlich fundiert, sagt Chaturvedi. »Es ist kein blinder Glaube. Es geht darum, Geist, Körper und Seele zu entwickeln. Beim Gebet, beim Satsang, empfangen wird die Strahlung des Guru, der vor uns sitzt. Jeden Tag gibt er uns Rat, er erhebt unseren Geist, er hilft uns bei der Meditation. Er hilft uns, den Inneren Klang zu finden.« Wenn der Geist sich erhebt, ist es sogar möglich, sagt Chaturvedi, in die nahe Zukunft zu sehen. Um einen Einblick in die Radhoswami-Religion zu bekommen, empfiehlt er mir ein Buch, er legt es auf den niedrigen Wohnzimmertisch. Es trägt den Titel Theology, Science and Technology .
    Ein Mädchen in weißem Hemd und Pyjamahose tritt in den Wohnbereich, gefolgt von einer älteren Dame. Beide grüßen unmerklich und verschwinden schnell wieder. »Meine ältere Tochter und meine Frau«, erklärt Chaturvedi kurz und fährt sich durch die angegrauten Haare. »Es ist eine Kunst, sozusagen gleichzeitig im Wald zu sitzen und eine Familie zu haben. Wir verurteilen Arbeit und Ehe nicht. Aber wir heiraten ohne Mitgift, ohne große Party, nicht nach der alten Tradition. Frauen sind bei uns gleichberechtigt. Auch deswegen sind wir sehr nah an der westlichen Kultur.«
    Ich begleite Chaturvedi die Hauptstraße hinab zur Bushaltestelle, er hat jetzt eine Aktentasche in der Hand. Er habe einen Termin in Delhi, erklärt er. »Eine Konferenz.«
     
    Rechter

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