Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Hand erhebt sich ein weißer Palast mit geschwungenen Fenstern, versehen mit Minaretten, umgeben von Kränen und Baugerüsten: »Das ist der Ashram eines anderen Zweigs der Radhoswami«, sagt er knapp und verabschiedet sich.
Ich gehe durch ein etwa acht Meter hohes Tor, auf dem die Worte Soami Bagh stehen, und trete in das weiße Kuppelgebäude ein. Die Wände sind in Lila gehalten, die Decke ist von Säulen getragen. An die Holztüren des Gebäudes ist RS geschrieben, Radhoswami steht darunter und Sinnsprüche auf Hindi wie: »Jeder Atemzug des Gurus ist ein Opfer/Es gibt keinen anderen Gott als den Guru.«
Ein monotoner, fast penetranter Gesang scheppert aus Lautsprechern. Auf dem weichen roten Teppich vor dem zentralen Heiligtum kauern eine stillende Frau und ein Greis vor einer Art Bettgestell, das geschmückt ist mit silbernen Vorhängen, Kunstblumen, gläsernen Kerzenhalten und Bildern von einem alttestamentarisch wirkenden Mann mit grauem Spitzbart und einem goldenen Hut, der an eine Krone erinnert:
Shiv Dayal Singh, der Gründer der Radhoswami-Religion, ein Heiliger. Ein riesiges Vorhängeschloss darunter sichert eine massive Spendenkiste.
Nahe dem Haupteingang sitzt ein kräftiger alter Mann mit weißer Mütze und Wolldecke um die Beine auf einer Veranda in einem Ledersessel. Er sei ein Meister, ein Sant, sagt er, und er heiße Sant Saran Seth. Dann zieht er geräuschvoll die Nase hoch. »Zu unserem Ashram gehören zwanzig Familien. Wir sind die einzigen wahren Anhänger der Religion. Alle anderen sind Spalter.« Ich setzte mich zu ihm. Sant Mat, sagt der Alte, der »Weg der Meister«, sei die Lehre vom Sehen mit dem inneren Auge. Er massiert seinen rechten Fuß, der in Lederlatschen steckt, mit der Hand und erklärt mir mit zu Schlitzen gezogenen Augen die Grundzüge von Surat Shabd Yoga, dem Weg der Radhoswami zu Gott. Er spricht über das Mysterium und die Schöpfung. Er erklärt mir den Mikrokosmos des menschlichen Körpers und seine unterschiedlichen Regionen, die den Makrokosmos des Universums abbilden. Er erläutert mir das Verhältnis zwischen universellem Geist und drittem Auge. Und die Verbindung des Menschen mit dem »Namenlosen« und »Wortlosen«. Mit Radhoswami, dem Gott. Surat Shabd Yoga ist ein unglaublich kompliziertes esoterisches System. So etwas können nur Inder erfinden, denke ich.
Ehrfurchtsvoll verbeugen sich die Gläubigen, die die Terrasse passieren: » Radha Swami «, grüßt der Sant zurück. Dabei betont er deutlich jede einzelne Silbe. »Der heilige Name ist mehr als nur ein Name«, sagt er. »Er ist die Verbindung der Töne in der höchsten Region der Seele.«
Ein Diener reicht uns Pistazien, Cashews, Datteln und Tee. Der Urenkel des Religionsgründers, Pritam Adhar Sena, setzt sich zu uns. Er hat ein blasses Gesicht und heruntergezogene Mundwinkel unter einer schwarzen Zipfelmütze. Auch er zieht
verschnupft die Nase hoch. Er wirkt schmal und zerbrechlich neben dem Sant. Wir sprechen über die Konflikte zwischen Hindus und Muslimen, über Politik.
»Wir sind alle eins«, sagt Pritam Adhar Sena. »Wir sind alle Menschen. Die Probleme in diesem Land haben erst begonnen, als die Politiker die Methoden der Briten übernommen haben. Und warum? Weil sie Macht wollten. Davor gab es in den Dörfern keine Probleme zwischen den Religionen.«
»Auch die heutigen Kämpfe zwischen Hindus und Muslimen werden ein Ende finden«, sagt der Sant. »Denn irgendwann werden alle Inder Anhänger von Radhoswami werden.«
Der Sant fordert mich auf, Prasad zu nehmen, eine geweihte Süßigkeit als Opfer für Gott. Die beiden braunen Kugeln schmecken köstlich. Aber ich habe Angst, mich zwischen all den schniefenden Gläubigen anzustecken.
Zum Abschied frage ich den Sant, ob ich am Abend seinen Satsang besuche könne. Aber auch er weist mich ab. Dazu müsse ich initiiert sein. »Für den Satsang ist ein Gentlemanagreement nötig.« Ich hatte gehofft, bei den Radhoswami mehr Toleranz zu finden. Doch ich bleibe auch hier ein Fremder.
Zwischen den Zeiten
Weniger als 200 Kilometer trennen mich noch von Delhi, eine Woche auf der alten Autobahn. Immer gleich sind die Tankstellen von Indian Oil und Hindustan Petroleum, in denen ich gelegentlich sogar eine saubere Toilette finde. Immergleich sind die Trucker-Raststätten, in denen ich unter Sonnenschirmen an Plastiktischen esse. Ich schlafe in nichtssagenden Siedlungen wie Kosi Kalna oder Palwal, wo morgens Schäfer ihr Vieh durch überschwemmte
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