Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
grünen Rasen der parkähnlichen Anlage hocken Gruppen von Menschen im Gras. Kleine Lagerfeuer brennen. In Beeten voller roter Rosen, die aus roter Erde sprießen, mahnen Schilder »Keine Blumen pflücken«. Durch ein Feld ockerfarbener Steinsärge auf Ziegelsteinfundamenten erreiche ich das zentrale Heiligtum. Im Eingang zum Grabraum von Muhammad Ghaus sitzt ein korpulenter Muslim mit grünen Augen und schwarzer Kappe. Er kratzt sich beständig die Waden unter dem Dhoti. Neben ihm schläft ein Mann auf dem nackten Stein, ein Sufi mit Rastalocken, rotem Hennabart und Palästinensertuch.
Wir feilschen um den Eintrittspreis. Der kleinste Schein in meiner Tasche ist eine Fünfhundertrupiennote, umgerechnet zehn Euro.
»Leg ihn hier hin«, befiehlt der Wächter in barschem Ton.
»Nein«, erwidere ich laut. »Das ist zu viel. Bei allem Respekt.«
»Kein Problem. Dann wechsle ich eben.« Er holt eine dicke Rolle kleiner Scheine unter dem Dhoti hervor und zählt fünf Hunderter auf eine niedrige Mauer. Ich gebe ihm einen davon zurück.
Der Raum ist dunkel und so riesig unter einer hohen Kuppel, dass die hinteren Winkel kaum zu erkennen sind. Das Grab von Muhammad Ghaus ist ein schmaler, hoher Pavillon, umgeben von einem niedrigen Gitter. Riesige Ratten laufen herum. Irgendetwas riecht aufdringlich süßlich. Als würden die Gräber bis heute parfümiert werden, als müsste man noch Hunderte Jahre nach dem Tod des Heiligen seinen Verwesungsgeruch übertünchen. Das Gitter um Muhammad Ghaus’ Sarg ist gespickt mit Schichten von Wunschzetteln, die mit
Bändern befestigt oder einfach hineingesteckt sind. Marriage Greetings steht auf einem Zettel. Examination auf einem anderen. Ich werfe einen Blick auf den Sarg, der überhäuft ist mit echten und künstlichen Blumen. Ich stecke meinen Zettel in das Gitter. Wieder einmal erweist sich der Islam als deutlich zugänglicher als der Hinduismus. Anders als im Tempel von Datia darf ich hier aktiv um spirituelle Unterstützung ersuchen. Wenn auch nur gegen Bares. Ich bitte den Heiligen um Beistand für meine Reise.
Als ich wieder ans Tageslicht trete, reckt sich der Sufi mit den Rastalocken, der vor dem Ausgang geschlafen hat, im Abendlicht. Langsam richtet er sich auf. Ungefragt führt er mich zum Grab des Musikers Tansen. Das ist vergleichsweise bescheiden, auf einer rechteckigen Plattform angelegt, ebenfalls aus Stein und geschützt von einem kleinen Pavillon. Der Sufi zeigt mir den dicken Tamarindenbaum direkt daneben, seit Jahrhunderten soll er hier stehen. »Essen Sie davon«, sagt er und zupft ein kleines Blatt ab. »Und Sie bekommen eine so süße Stimme wie Tansen.« Dann verschwindet er über den Rasen, springt über eine Mauer und taucht in der Ferne vor einem der Nebengebäude wieder auf, um sich an einem Wasserhahn das Gesicht zu waschen. Ich kaue behutsam eines der Blätter. Es schmeckt leicht sauer. Und überraschend frisch in der angestaubten Atmosphäre dieser Stadt.
Das Land der Könige
Ich verlasse Gwalior im Morgennebel. Senf- und Kartoffelfelder durchsetzen das wüste Land. Nach drei Stunden Wanderung beginnt die alte Autobahn, die über Agra weiter nach Delhi führt: vierspurig, aufgeplatzt und voller Schlaglöcher, die beiden Fahrtrichtungen von einem grasbewachsenen Mittelstreifen und einen Drahtzaun getrennt. Oft führt der Highway mitten durch die Dörfer hindurch. Roadtrains rauschen vorbei, riesige Lkw mit Containern beladen. Auf Fahrradtransportern stapeln sich Dutzende roter Gasflaschen für die private Energieversorgung. Auf Dreiradtaxis und Kleinlastern sind kleinere Büffelherden gepfercht, ganz wie 1000 Kilometer weiter im Süden in der Hochebene von Andhra Pradesh. In einem Dorf rennt ein verrückter Hund den passierenden Limousinen hinterher und kläfft sie an. Irgendwo mitten in der Steppe steht am Rand der Autobahn eine Reihe Parkverbotsschilder im Nichts.
Gegen Mittag hält ein japanischer Kleinwagen, vollgestopft mit drei Männern und drei Mädchen, die billig geschminkt sind. Es sind die ersten jungen Frauen, die mich länger anschauen und sogar anlächeln seit irgendwo im Süden Madhya Pradeshs vor mehr als zwei Wochen. »Steig doch ein«, rufen sie. Und ich merke schmerzlich, dass ich eine Spur von Interesse nicht verleugnen kann, als ich abwinke. Ich spüre, wie unendlich einsam ich bin. Ich bin ein Durchreisender. Nie sind meine Kontakte nachhaltig. Selten bleibe ich länger als eine Nacht.
Auch wenn ich ein paar Freunde gefunden
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