Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
hervorbracht, vom Musiker und Komponisten Tansen im 16. Jahrhundert bis zum weltweit tourenden Sarodvirtuousen Amjad Ali Khan.
Ich lege einen Ruhetag ein und mache mich zu einem altehrwürdigen Musiccollege auf, dem Shankar Gandharva Mahayidyalaya. Das Institut ist schwer zu finden. Der Mann an der Rezeption meines Hotels hat mir eine Wegbeschreibung zum Achaleshwar-Tempel zur Orientierung mitgegeben. Doch ich finde das College erst nach zehnminütiger Suche, direkt gegenüber dem Tempel, aber völlig versteckt hinter zwei Reihen Snack- und Panbuden: ein unscheinbarer Durchgang unter einem angerosteten Blechschild.
Rektor Shankar Pandit sieht müde aus. Hinter ihm hängt ein fast zwei Meter großes Bild seines Großvaters Krishnarao
mit rotem Turban, dessen Sohn Laxman und der Enkelin Mita Pandit; eine Ahnengalerie von Musikvirtuosen.
»Mein Großvater hat die Musikschule 1914 gegründet«, sagt Pandit. »Heute unterrichten wir Sitar, Tabla, Violine, Harmonium und Gesang.« Vierhundert Studenten und sechsundzwanzig Lehrer hat die Hochschule. »Wir sind das größte College dieser Art in Indien.«
Der Rektor führt mich in einem Säulengang durch das zweigeschossige Gebäude. Es liegt u-förmig um einen Innenhof, in dem Motorräder und Mopeds parken. Hinter einer Holztür sitzt ein einsamer Sitarspieler mit überschlagenen Beinen in einem fast völlig leeren Raum. An der Wand lehnen zwei in Baumwolltaschen gepackte Sitars. Wir setzen uns vor ihn auf den Boden. Leidenschaftliche Töne dringen aus dem einundzwanzigsaitigen Instrument. Der Rektor begleitet den treibenden Rhythmus, er wackelt dazu mit den langen Fingern. Die Töne klingen exotisch, die Harmonien fremd. Als das Stück vorbei ist, legt der Sitarspieler sein Instrument zur Seite und blickt mich schweigend an. Ich klatsche dezent. »Spielen Sie auch vor Publikum?«, frage ich.
»Ja«, erwidert der Mann. »In Mumbai, in Delhi, in Pune. Aber nicht hier. Gwalior ist Indiens Musikhauptstadt. Aber das Geschäft wird in Delhi gemacht.«
Pandit führt mich in den Gesangsraum, in den Harmoniumraum. Und in den Tablaraum. Drei Augenpaare richten sich auf uns, als wir ihn betreten. Aber die acht dazugehörigen Fingerpaare spielen ungerührt weiter. Angeleitet von einem grobschlächtigen Lehrer, tackern die Schüler Töne und Takte in zwei Trommeln, die in ihrem Schoß liegen. Der Rhythmus galoppiert und wird ruhig, die Schläge knallen hart gegen die unverputzten Wände, um rasch wieder leiser werden. In dem Meer aus Trommelschlägen, in dem klackenden Taktgemälde
bleiben alle exakt im Rhythmus, als würden sie sich ohne Worte verstehen.
»Tablaspielen ist etwas anderes als einfach nur Trommeln. Es ist Planarbeit«, sagt der Rektor und zeigt mir die Zettel, die neben den Trommeln auf dem Boden liegen: »Dha, dha« und »Ti, ti, ti« steht darauf. »Jede einzelne Bewegung mit den Fingern ist ein genau vorgegebener Ton. Dieses Instrument ist so schwer zu spielen wie Sitar. Oder auch Klavier.«
Der Geigenspieler im Nebenraum gibt mir weitere Erklärungen. »Was für dich richtig klingt, ist falsch«, konstatiert er mit kreidiger Stimme. »Was falsch klingt, ist richtig. Außer natürlich bei westlicher Musik.« Er stimmt ein Barockstück an. Aber auch das klingt schräg und krächzend. »Das ist für dich jetzt harmonisch, oder?« Ich zwinge mich zu einem Nicken.
Zum Abschied bittet mich der Rektor in sein Büro. Ein Sekretär sitzt an einem ausladenden Schreibtisch, der mit Schichten von Unterlagen bedeckt ist, und nuschelt in den Hörer eines schwarzen Telefonapparates. Ein anderer malträtiert mit zwei Fingern eine elektrische Schreibmaschine. Der Rektor lässt ihn eine Din-A4-Mappe aus einem blauen Metallschrank holen. Visitor Register kritzelt Pandit auf den Pappdeckel und reicht mir die Mappe. »Vielen Dank für die Führung durch das Zentrum der klassischen musikalischen Erziehung in Indien«, schreibe ich hinein. Und befürchte, dass das Besucherbuch ansonsten für immer leer bleiben wird.
Am Abend lasse ich mich zum Grab Tansens chauffieren, der fast vergötterten Sängerlegende am Hof des Mogulkaisers Akbar aus dem 16. Jahrhundert. Seine Gebeine sind im Mausoleum seines Mentors, des muslimischen Heiligen Muhammad Ghaus, beigesetzt. Das Mausoleum liegt unterhalb des pompösen, von runden Türmen gesäumten Forts von Gwalior, ein
braun-gelber Sandsteinbau mit einer riesigen Kuppel in der Mitte. Eine trübe, eckige Version des Taj Mahal. Auf dem
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