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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Menschen in Indien, die von der Globalisierung in ein Niemandsland geschleudert worden sind. In den Städten zerfallen die Großfamilien; Kinder ziehen fort oder zeugen keine Nachkommen mehr. Und ein Sozialsystem gibt es ganz einfach nicht. Es ist niemand mehr da, der sich um die Alten kümmert.
    Linguistische Welten trennen den Tamil sprechenden Mann aus dem Süden und unsere nordindischen Gesprächspartner voneinander. Ich übersetze ihr Hindi für George in Englisch, soweit das in meiner Macht steht. Ein Ehepaar zeigt uns sein Zimmer, zwei Betten, zwei Metallschränke, ein Radio, ein Bild der Göttin Lakhsmi, beschriftet mit den Worten »guter Profit«, wohl eher als Geschenk für ein Geschäft gedacht, ein Bild von Mutter Theresa. Er sei Ringer gewesen, sagt der Mann, und Autorennfahrer. Seine Gattin lacht herzlich, als ich bemerke, da habe sie aber eine gute Partie gemacht. Ihr rechtes Auge kann sie nicht richtig öffnen. »Ich habe Asthma, ich inhaliere.« Die beiden kommen aus Delhi, sie haben drei Söhne und zwei Töchter, die in der Stadt wohnen. 1978 hatte er einen Unfall, bei dem er alle Zähne verlor, sagt er. Er öffnet seinen Mund, damit ich hineinblicken kann. Jetzt ist er neunundsiebzig Jahre alt. »Die Zeit wartet auf niemanden. Die Kinder mögen es nicht mehr, dass die Alten mit ihnen leben«, sagt die Frau. »Es ist immer mehr wie im Westen. Unsere Familie kommt nur selten hierher. Meistens spielen wir den ganzen Tag Karten und lesen.«
    Der Mann rückt sich die Sonnenbrille auf die Nase. Hinter den Gläsern zeichnen sich dicke Augenränder ab. »Vierundzwanzig Menschen wohnen hier, außerdem drei Mitarbeiter. Es gibt viermal am Tag Essen.« Er führt die Menüfolgen präzise auf: »Frühstück mit Tee und Paratha, Mittagessen mit Linsen, Gemüse und Reis. Nachmittags Kekse und Tee. Abends
um neun Uhr Fladenbrot und Linsen. Und jeder bekommt 250 Rupien Taschengeld im Monat.«
    Sie führen mich durch das Gebäude. Im Treppenhaus hängt ein kleines Mobile, das Götterpaar Sita und Ram als Pappfiguren, die sich im leichten Windzug wie im Tanz drehen. In einem Vorraum lümmelt eine verwirrt blickende Alte mit einem Gesicht wie ein trauriger Fisch in einem Sofa vor dem Fernseher.
    Der Dachgarten ist eine gepflegte Rasenfläche, die in einen Hügel hineingebaut ist. Vor den Wänden ringsum trocknet Wäsche, in den Beeten wachsen Bananenstauden und Geranien. Blaue Schläuche für die Bewässerung liegen herum. Frauen sitzen auf einem Tuch und putzen Spinat, daneben isst ein Kind Chips. Herren lehnen sich in Metallstühle und lesen Zeitung. Es ist eine friedliche Szene.
    Der Boxer stellt uns einem älteren, westlich gekleideten Mann vor. »Das ist Rakesh Jain, ihm gehört das Altenheim.« Jain sitzt mit überschlagenen Beinen in einem Stuhl, ein gelassen wirkender Mann mit rundem Gesicht und abstehenden Ohren. Auch er ist neunundsiebzig Jahre alt und sagt: »Die moderne Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Die Vorstellungen vom Glück variieren von Generation zu Generation. Ich habe keine Kraft, dagegen zu kämpfen. Weil immer mehr Alte von ihren Familien allein gelassen werden, haben mein Bruder und ich 2005 dieses Altenheim gegründet. Vorher war das Haus ein Warenlager. Das Geld kommt aus unserem Unternehmen, Paras Dyes and Chemical Ltd.« Er werde nur seiner sozialen Verantwortung gerecht, sagt Jain. »Kein Bewohner muss dafür bezahlen, hier zu sein.«
    Zum Mittagessen setzen sich George und ich in einen Empfangsraum gegenüber einem kleinen Büro hinter Holzwänden mit Glasfenstern. Eine Bedienstete reicht Gemüse, Reis und
gefiltertes Wasser aus Plastikbechern. Ein kleiner, schmächtiger Mann mit steifem Rückgrat nimmt gegenüber Platz. Er trägt einen strengen Rollkragenpullover und hat verbitterte Falten um den Mund. Sein Kinn ist sehr gründlich rasiert. Der Mann stellt sich als »Mister Agarwala« vor, er wirkt sehr gesittet, sehr bescheiden. Zunächst.
    Agarwala hat viel zu sagen, und er spricht ohne Punkt und Komma. Dass es für Senioren keine soziale Absicherung in diesem Land gibt wie im Westen. Dass sie abgeschoben werden. Er redet sich in Rage. »Wir haben keine staatlichen Einrichtungen, keine gemeinnützigen Organisationen, keine Zentralen, an die sich Alte wenden könnten. Auf dem Papier sagt die Regierung, dass sie viel tut. Aber schauen Sie sich um, sehen Sie die traurige Wahrheit im Staate Indien!« Seine Stimme ist jetzt laut, und sie klingt verletzt. »Mutter Theresa hat den Armen

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