Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
und den Behinderten geholfen, aber sie kam aus Jugoslawien. Wir hier in Indien haben keinen Sinn dafür, den Alten zu helfen. Wir werden gezwungen, in Institutionen wie diese zu ziehen. Wir werden von unseren Familien rausgeworfen. « Wörtlich sagt er: »weggeworfen«. Die Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt, fixiert er mich. Beim Sprechen reißt er Mund und Augen auf, aggressiv und entsetzt zugleich wirkt das. Agarwala doziert und fabuliert. Er lobt Pravesh Jain und dessen Bruder für ihren Geist der »Übermenschlichkeit«, wie er ihren Gemeinsinn stilisiert. Er könne froh sein, hier zu wohnen, einer der wenigen Glücklichen, für die die Jain-Brüder sich entschieden habe. »Die staatlichen Herbergen sind furchtbar. Die Bewohner bekommen ungefiltertes, dreckiges Wasser. Schreiben Sie das auf!« Er wischt seinen Metallteller zur Seite und springt unvermittelt von seinem Stuhl. Ich frage ihn nach seiner Familie. »Dazu sage ich nichts, das habe ich nicht nötig, ich bin hochgebildet«, erwidert Agarwala. »Ich
bin Doktor mit dem höchsten Grad. Ich habe eine Reihe Bücher geschrieben, ich spiele keine Karten. Ich trinke nicht. Ich kontrolliere mich selbst. Nicht die anderen.« Aber jetzt müsse er schnell gehen. Er hält einen Din-A4-Umschlag in der Hand, zwei Mappen lugen daraus hervor. Er wolle den Bus bekommen, er müsse einen Schüler unterrichten. »In Erziehungswissenschaften. «
George und ich lassen uns von einem Taxi zurück ins Stadtzentrum fahren. Mitten im Stau macht eine Gruppe Zigeuner Kunststücke. Ein Junge mit angemaltem Schnauzer bearbeitet eine Handtrommel, ein Mädchen mit Zöpfen schlägt Flickflacks zwischen den engen Gassen in der Blechflut, ein anderer läuft mit einer Schale herum, um Geld einzusammeln. »Sie sollten eine Ausbildung für ihre Fähigkeiten bekommen«, sagt George. »Damit sie professionelle Artisten werden.«
Über dem Regierungsviertel kreist ein Hubschrauber, unter dessen Bauch die indische Fahne flattert. Soldaten paradieren zwischen Parkanlagen. Fast alle Alleen sind abgesperrt. »Ein Staatsempfang«, sagt der Taxifahrer.
Am Connaught Circle ziehen Straßenvermesser in Leuchtkleidung Maßbänder durch den Straßenstaub. Zwischen den Marmorsäulen der Kolonialbauten werben Kaffeehäuser und Handyläden mit Leuchtreklamen. Die schmucklosen Eingänge und wackeligen Sicherheitsschleusen des unterirdischen Palika-Basars, gebaut in den 1980er-Jahren, wirken bereits verfallen neben den eleganten, blank gefegten Rolltreppen, die zur neuen Metro hinab führen. Es gelingt mir nach langem Suchen, einen Schreibwarenladen zu finden, in dem ich den »weichesten Kugelschreiber der Welt« erstehe.
Im Bahnhofsviertel steht ein heruntergekommener Mann, ein menschliches Wrack im zerrissenen Wintermantel auf
dem Seitenstreifen der sechsspurigen Straße, eine typische Mischung aus Asket und Obdachlosem. Ein Mensch, der nach traditioneller Vorstellung mit einem Topf von Haus zu Haus gehen könnte, um Almosen zu sammeln. Einer, der religiös legitimiert Hasch rauchen dürfte, aber nie Schnaps trinken. Doch im neuen Delhi versucht er, eine Flasche Whiskey mit dem Etikett der Marke Bagpiper, aber möglicherweise mit zurechtgepanschtem Inhalt, an die Insassen vorbeifahrender Autos zu verkaufen.
Wie sehr sich diese Stadt verändert hat, seit ich das erste Mal hier war. Vor zwanzig Jahren habe ich sie geliebt. Damals war New Delhis Zentrum in weiten Teilen mehr ein Geflecht ineinanderwachsender Dörfer und Kleinstädte als eine Weltstadt. Jedes Viertel ein beschauliches Paralleluniversum, jede Gasse eine Offenbarung voller Tempel und Kühe, Moscheen und Pferde, überquellender Tante-Emma-Läden und brummender Teestuben. Heute versucht Delhi mit Gewalt kosmopolitisch zu werden. Die Stadt scheint sich endgültig in einen Moloch verwandelt zu haben.
Am Abend esse ich auf der zugigen Dachterrasse meines Hotels Nudeln mit Pesto zu eiskaltem Bier und nicht durchgebratenen Chicken Wings. An den Nachbartischen diniert ein Inder in Hawaiihemd mit zwei Japanern in Fleecejacken. Auf der übergroßen Leinwand hält der frisch gewählte amerikanische Präsident Obama eine Rede. »Wir kümmern uns um alle auf der Welt«, ruft er. Unter dem Bild laufen begeisterte Kommentare von Zuschauern über den Bildschirm: »Obama wird alle Probleme Indiens lösen«, schreibt eine Frau aus Arunachal Pradesh.
Dieser Ruf nach Hilfe von außen gibt mir zu denken. Indien war einmal so stolz. Es hatte keine
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