Indigo - Das Erwachen
Onkel Reginald hatte beim Abendessen versucht zu plaudern, doch Gabe hatte sich immer weiter in sich zurückgezogen. Es gab vieles, worüber er nachdenken musste, und nachdem er seine Vergangenheit im Schnelldurchlauf noch einmal durchlebt hatte, wirkte er erschöpft.
Seine selbst gewählte Einsamkeit hatte sie an Lucas erinnert. Ehe er nach Haven Hills geschickt worden war, hatte er auch nicht mehr viel geredet. Es war, als hätte er aufgegeben. All diese Dinge kamen jetzt in ihr hoch. Auch sie hatte ihre Vergangenheit erneut durchlebt, und es fühlte sich nicht gut an.
Warum hatte sie sich nicht mehr Mühe gegeben, Lucas zu verstehen? Warum hatte sie nicht entschlossener darum gekämpft, dass er aus dem Krankenhaus entlassen wurde? Die Schuld lastete schwer auf ihr.
âGott.â Sie wischte sich übers Gesicht und zog sich die Decke über den Kopf, aber es wollte einfach keine Ruhe in ihre Gedanken einkehren. Das mit dem Schlafen konnte sie vergessen. Es würde sowieso nicht klappen. Nicht, solange sie Gabriel und Lucas nicht aus dem Kopf bekam.
Rayne wollte nicht auf der Seite derjenigen stehen, die Menschen wie Lucas und Gabe für einen Fehler der Natur hielten. Lucas hatte wenigstens Eltern gehabt, die ihn liebten. Sie konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen, wie Gabriel sich fühlen musste, der selbst von seinem Vater für einen Freak gehalten und wie ein AusgestoÃener behandelt worden war.
Sie spürte, wie ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen. Unaufhörlich liefen sie ihre Wangen herab, und ihr hemmungsloses Schluchzen verriet ihr, dass es noch lange so weitergehen würde. Wenn sie an Gabriel und seinen Onkel dachte, an die Liebe, die sie verband, vermisste sie ihre Mom und ihren Dad â und die Kindheit, die sie mit einer gewaltigen Explosion hinter sich gelassen hatte.
Einer Flugzeugexplosion .
Rayne hielt es nicht mehr aus. Sie warf die Decken zurück und setzte sich im Bett auf. Alles, was sie wollte, war mit Gabriel zu reden. Bei ihm zu sein. Sie sprang aus dem Bett und zog den Morgenmantel über. Blendete alle Gründe aus, aus denen es vielleicht besser war, nicht mitten in der Nacht in sein Zimmer zu gehen.
Diesmal würde sie tun, was Gabriel und Lucas getan hätten: Sie würde auf ihr Gefühl vertrauen.
Einige Minuten später
Gabe hatte ein Feuer in dem Kamin in seinem Schlafzimmer gemacht. Er hatte nicht einmal versucht zu schlafen. Sein Bett war noch immer unberührt, und das Zimmer war dunkel, was zu seiner Stimmung passte. Barfuà und im Schneidersitz saà er vor der einzigen Lichtquelle im Raum â dem Feuer â auf dem Boden. Er trug noch immer seine Jeans und das schwarze âFreak on a Leashâ-T-Shirt von Korn, das er bei seiner Flucht in seinem Zimmer zurückgelassen hatte. Angeleinter Freak . Er hatte es nur gekauft, um seinen Dad zu ärgern. Aber aus Respekt vor seinem Onkel hatte er am Morgen ein Hemd übergezogen, das den Schriftzug verdeckte.
Jetzt, wo er alleine war, konnte er endlich der Freak sein, für den er sich sein Leben lang gehalten hatte.
Er starrte in die Flammen und stellte sich vor, die sengende Hitze könne seine Zweifel verbrennen. Sein Onkel hatte etwas in ihm berührt, von dem Gabe nicht einmal gewusst hatte, dass er es noch in sich trug. Es war wunderbar gewesen, seine Mutter wieder bei sich zu spüren. Wenn das, was Onkel Reginald gesagt hatte, stimmte, würde ihn seine Wut in immer gröÃere Schwierigkeiten bringen. Er hatte das Maximum seiner Fähigkeiten erreicht. Wenn er sie weiterhin nutzte, würde er damit sich und andere gefährden.
Um weiterzukommen, musste er das aufgeben, was ihn überhaupt erst so weit gebracht hatte â und einen anderen Weg einschlagen .
Er fühlte sich nicht stark genug, um etwas Neues auszuprobieren, und doch musste er es tun. Rayne und ihr Bruder Lucas brauchten ihn, und auÃerdem konnte er nicht für immer auf der Stelle treten. Er wollte sich nicht mehr verstecken. Er musste dem Schmerz über den Verlust seiner Mutter ins Auge blicken und dem unnachgiebigen Zorn, den er für seinen Vater hatte. Nur so würde er ein Gleichgewicht zwischen Liebe, Hass und Loslassen finden, mit dem er leben konnte. Im Dunkel seines Zimmers â alleine â spürte er das Gewicht dieser Veränderungen immer schwerer auf sich lasten. Er fühlte sich nicht bereit.
Als er ein leises Klopfen an der
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