Indigo - Das Erwachen
Rayne kniete vor ihm und legte ihre Hände um sein Gesicht. Sie sah ihm in die glasigen Augen, während er mit dem Skizzenblock im Schoà auf seinem Schlafsack saÃ.
âWas hast du gesehen? Sag es mir.â In der Hoffnung, ihn damit aufzuwecken, schüttelte sie ihn sanft.
âWas ⦠was ist p-passiert?â Endlich sah Gabriel sie an, aber er wirkte benommen. Erschöpft sank er in sich zusammen und lieà zu, dass sie ihn umarmte. Rayne hielt ihn fest. Was sie gerade gesehen hatte, hatte sie völlig durcheinandergebracht, aber sie brauchte Antworten. Für Lucas.
âDu musst mit mir reden.â Sie umarmte ihn fester und flüsterte ihm ins Ohr: âUnd bitte lüg mich diesmal nicht an.â
âWovon redest du?â, murmelte er und löste sich aus ihren Armen. âVerschweigen ist nicht dasselbe wie Lügen ⦠jedenfalls nicht direkt.â
Rayne schnappte sich den Skizzenblock und hielt das Porträt von Lucas hoch.
âErzähl mir von ihm. Was hast du gesehen?â Sie stieà mit dem Finger auf das Papier. âEs sah so aus, als hättest du eine Vision.â
âNein, das ist ⦠nichts. Ich habe Träume, keine Visionen. Ich zeichne. Keine groÃe Sache.â
Gabe wandte sich ab, er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er lebte hinter einer Wand aus Geheimnissen, und sie hatte das Gefühl, dass die Zeichenblockvisionen nur ein Teil der Dinge waren, die er vor ihr geheim halten wollte. Irgendwie musste sie einen Weg finden, an ihn heranzukommen. Gabriel war ein Rätsel, das sie lösen wollte, aber nachdem sie gesehen hatte, was er gezeichnet hatte, war es erst einmal wichtiger, Lucas zu helfen.
âGabe, du verstehst das nicht. Der Junge, den du gezeichnet hast. Das ist mein Bruder, Lucas. Und er ist verschwunden.â
âWas?â Er riss ihr den Block aus der Hand und starrte auf das Bild, das er gemalt hatte. âBist du sicher? Vielleicht bin ich auch einfach nur untalentiert.â
âDie Zeichnung ist fast so genau wie ein Foto. Du bist ein verdammter Michelangelo. Natürlich hast du Talent.â
âAber ich kenne deinen Bruder nicht. Wie kann es dann sein, dass ich ihn zeichne?â
âSag duâs mir, van Gogh.â
âDas solltest du wirklich lassen.â
âWas denn?â
âVan Gogh war ein niederländischer Postimpressionist, das ist ganz was anderes als ein italienischer Renaissancemaler wie Michelangelo.â
âKunstgeschichte? Echt jetzt?â Sie starrte ihn völlig ungläubig an. âJetzt mach nicht den Rain Man. Bitte, konzentrier dich!â
Rayne warf den Block auf den Schlafsack und umfasste wieder Gabriels Gesicht. Sie zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. âUnd zwar jetzt. Mach die Augen zu und versuch, dich zu erinnern, was du gesehen hast. Lass nichts aus.â
Nach einem langen Moment angespannter Stille tat Gabriel, worum sie ihn gebeten hatte. Er schloss die Augen und sprach drauflos. Einiges ergab überhaupt keinen Sinn. Er erzählte von Weihnachtsbäumen und einem Piratenschatz, der von einem X markiert wurde. Seine vagen Erinnerungen waren Rayne kaum eine Hilfe, auÃer, dass sie Raynes Sorge noch verstärkten. Lucas hatte Angst gehabt. Das zeigte die Zeichnung. Gabe wusste nicht, warum eine fleischige Hand um Lucasâ Kehle lag, und er versuchte, diesen Teil herunterzuspielen, damit sie sich besser fühlte, doch es gelang ihm nicht.
âDas war allesâ, sagte er schlieÃlich. âAn mehr kann ich mich nicht erinnern. Was ich sehe, ist nicht wie ein Video. Es sind nur ungeordnete Eindrücke. Kann sein, dass ich damit total danebenliege.â
Rayne wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
âDiese Visionen ⦠die Träume. Sind die â¦?â Sie brach ab, wollte nicht aussprechen, was ihr durch den Kopf ging, doch sie musste es tun. âHast du Visionen von Dingen, die schon passiert sind ⦠oder von Ereignissen in der Zukunft, Dingen, die geändert werden können?â
Gabriel seufzte tief und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
âIch habe keine Ahnung. Vor dir wusste ich noch nicht mal, dass es diese Leute wirklich gibt. Jetzt kann ich nicht â¦â Er beendete den Satz nicht, sondern nahm seinen Skizzenblock und blätterte durch die Seiten. Bei den besonders Angst einflöÃenden Skizzen hielt er inne, als würde er noch einmal erleben, was er
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