Indigo - Das Erwachen
gesegnet .
Sie hatten eine Aufgabe. Die Aufgabe, zu werden . Die Evolution hatte sie ausgewählt, um ihren Samen auszusäen.
Als sie Lucas das erste Mal gespürt hatte, es war erst ein paar Tage her, hatte sie sofort gewusst, dass er besonders war. Aber wenn er wirklich in ihren Kopf blicken konnte, vorbei an den Wänden, die sie errichtet hatte, um ihre schlimmsten Ãngste vor Rafe und den anderen zu verbergen, dann wusste sie nicht, ob sie seine Nähe ertragen konnte. Würde Lucas sich an alles erinnern, wenn das Fieber vorbei war? Und wenn, wie sollte sie ihm dann jemals wieder in die Augen blicken? Wenn er wusste â wirklich gesehen hatte â, was sie getan hatte, würde er sie hassen .
Doch dann kam ihr ein noch viel düsterer Gedanke. Konnte sie darauf vertrauen, dass er es niemandem erzählte?
Zwei Stunden später
Rafe Santana lief eilig durch die Schatten seines unterirdischen Zuhauses. Er wusste, wie er sich durch die Tunnel bewegen konnte, ohne seine kleine Taschenlampe einzuschaltenund die Batterien zu verschwenden. Seine Augen und seine Veranlagung halfen ihm dabei, sich im Dunkeln zurechtzufinden. Selbst in den finstersten Ecken fand sich ein Hauch von Licht, wenn man nur genau genug hinsah. Aber vielleicht entstand dieses Gefühl vor allem durch seine Stimmung. In seiner Hosentasche hatte er eine kleine Schachtel, und er wollte die rosafarbene Schleife nicht zerdrücken. Er hatte die Schachtel selbst eingepackt. Trotz seiner plumpen Finger war die Schleife ziemlich gut gelungen.
Aber er musste noch einen Halt einlegen, ehe er Kendra die Schachtel überreichen konnte.
âHast du Benny gesehen?â, fragte er Little G.
âNicht, wenn er nicht gesehen werden will.â Der Junge grinste frech und schlug sich leicht gegen den Kopf, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen. âAch ja, er spielt unten bei der alten Bahn. Hab ihn vor zwei Minuten noch gesehen. Die Zwillinge sind bei ihm.â
Der dürre Junge mit dem schmutzigen Gesicht sah kaum zu Rafe hoch. Er trug zwei Eimer mit herumschwappendem Wasser. Es war sein Job, ihren Trinkwasservorrat aufzustocken und das Bewässerungssystem für Kendras Garten zu füllen. Sie hatten ein Hauptwasserrohr angezapft â die Stadt L.A. würde garantiert nicht vermissen, was sie ihr stahlen.
âDanke, Mann.â
Rafe legte einen Zahn zu und bog in einen Korridor ab, der ihn auf alte Bahnschienen führte. Als er um die Ecke kam, erkannte er im Dunkeln einen vertrauten Umriss. Ein riesiger Schatten hob sich gegen das schummrige Licht ab, das dahinter leuchtete. Die alte Dampflokomotive erhob sich in der Finsternis wie ein Ungeheuer. Der Metallkühler erinnerte an gefletschte Zähne, die direkt über den Schienen schwebten. Der zerbrochene Scheinwerfer sah aus wie ein Zyklopenauge, und der schwarze Korpus wirkte kämpferisch und kraftvoll. Eine massige Kreatur ohne Seele.
Das hatte er gedacht, als er das stählerne Biest zum ersten Mal gesehen hatte.
Benny aber liebte die verrostete alte Lok und die Waggons dahinter. Er kannte jeden Millimeter an der Maschine in- und auswendig und hatte schon mit jeder Schraube und jedem Hebel gespielt. In der ersten Woche, nachdem er in die Tunnel gekommen war, hatte er sich dort im Dunkeln versteckt. Wollte nicht mehr herauskommen. Rafe hatte ihm Essen und Wasser bringen müssen und war bei ihm geblieben, bis der Kleine kapiert hatte, dass er nicht bestraft wurde und Kendra und ihre Crew in Ordnung waren. Der alte Zug war kein Keller mit verschlossener Tür. Benny konnte kommen und gehen, wie es ihm gefiel. Zusammen mit Rafe hatte er ein Zuhause gefunden, an dem sie beide bleiben konnten.
âYo, Benny, ich binâs.â Rafe hob einen Kiesel vom Boden auf und warf ihn gegen die Zähne des Monsters. Das Klicken hallte in der Dunkelheit wider. âIch hab was für dich.â
âFür mich?â
Ãber dem Motorraum erschien ein winziger Kopf. Dann folgten zwei weitere, und Rafe hörte Schritte über die Stufen klappern. Benny hing gerne mit den Zwillingen ab. Sie redeten nie mit ihm. Sie redeten mit niemandem, aber einem echten Ninja machte das nichts aus.
âWas denn?â Der Kleine nahm die unterste Stufe mit einem Sprung und setzte sich hin. Die Zwillinge kauerten sich auf die Stufe über ihm und verzogen die Gesichter zu dem, was sie sich unter einem Lächeln vorstellten.
Doch noch jemand
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