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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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erkennen, wie der Trick funktionierte. Herr Ferenc berührte mich an der Schulter:
    – Okay, sagte er, ich sehe, Sie machen sich Sorgen. Deswegen möchte ich Ihnen erzählen ... äh, die folgende Geschichte: eine Mutter, ja? Stellen wir uns vor, eine Mutter, die weiß, dass ihre Existenz für ihre Kinder lebenswichtig ist. Sie ist alleinerziehend und von aller guten Gesellschaft verlassen, sozusagen, hat kein soziales Auffangbecken. Gut. Ihr eigenes Wohlergehen, ihre geistige und körperliche Gesundheit sind ihr sehr wichtig, denn von ihr hängt das Leben ihrer Kinder ab. Sie darf keinen Tag im Jahr krank sein, sonst würde das Chaos ausbrechen. Also achtet sie sehr auf sich, neigt zu Hypochondrie, übertriebener Sauberkeit. Eines Tages meldet sich ein alter Bekannter, der sich einst von ihr zurückgesetzt und gedemütigt fühlte und nun Rache anihr nehmen will. Er droht ihr, beschimpft sie. Die Mutter setzt natürlich die Bedrohung ihrer Person automatisch mit der Bedrohung ihrer Kinder gleich, klar? Also greift sie zu einem paradoxen Mittel, um mit der Bedrohung fertig zu werden: Sie schickt ihre Kinder vor, lässt sie sogar mit dem unberechenbaren Mann allein. Denn, so sagt sie sich, die Überlebenschancen der Kinder sind um vieles höher als ihre, mit den Kindern hat der Mann ja keinen Streit. Sie können ihm höchstens als Stellvertreter für sie erscheinen, und selbst in diesem Fall gibt es immer noch die Möglichkeit, dass er sich nur symbolisch an ihnen rächen wird. Ihre Wunden werden mit Sicherheit wieder verheilen, während sie Gefahr liefe, dauerhaft beschädigt oder sogar ausgelöscht zu werden, wenn sie sich in die Nähe des gefährlichen Mannes begäbe. Preisfrage: Handelt die Frau aus Egoismus oder nicht?
    – Was?
    – An welcher Stelle sind Sie denn ausgestiegen?, fragte Ferenc freundlich.
    – An keiner, ich ... Vielleicht können wir kurz vor die Tür gehen?
    – Sì, certo, sagte Ferenc. Es befindet sich ohnehin auf der Rückseite des Gebäudes.
    Ich folgte ihm einen Gang entlang, der an einer Küche vorbeiführte, dann kamen die Toiletten (Strichmännchen und Raketenweibchen), schließlich traten wir durch eine Tür in einen Innenhof. An der Mauer gegenüber sah ich zwei Eingänge, beide mit Gegensprechanlage und Ziffern-Pad. Dazwischen eine schmale Blechtür, auf der ein Vorsicht-Elektrizität-Zeichen angebracht war: ein zackiger Pfeil, der ein dickköpfiges Strichmännchen in den Bauch traf. Herr Ferenc schloss diese Türmit einem Schlüssel auf, der an einem kleinen silbernen Ufo hing. Stufen, die nach oben führten. Die Beine eines Mannes waren zu sehen, der auf einer höheren Treppenstufe stand. Er kam einige Schritte herunter, bis er auf Straßenniveau war.
    Er lächelte, als er Ferenc erkannte, und begrüßte uns.
    Ich hob die Hand, da ich plötzlich Angst davor hatte, den fremden Mann meine Stimme hören zu lassen.
    – Combien?, fragte Ferenc.
    Der Mann öffnete seine Hand und zeigte: fünf.
    – Et sur le toit?
    Zwei Finger verschwanden.
    Herr Ferenc nickte.
    Dann stieg er die äußerst schmale Treppe hoch. Ich folgte ihm. Der Mann wandte sich demonstrativ von mir ab, als ich mich an ihm vorbeidrängte. Als mein Gesicht für einen kurzen Augenblick ganz nah an seinem war, be-
    schirmte er sogar seine Augen mit einer Hand.
    – Wir gehen gleich direkt aufs Dach, sagte Herr Ferenc.
    Auf dem Dach angekommen, hatte ich das Gefühl, dem bewölkten Brüsseler Himmel sehr nahe zu sein. Es war erstaunlich warm hier oben. In einer Ecke saßen drei Männer. Kameras oder etwas Ähnliches baumelten um ihren Hals. Als ich näher an sie herantrat, erkannte ich, dass es Atemschutzmasken waren.
    Die Männer spielten Karten. Neben ihnen auf dem Boden standen Bierflaschen. Blanche de Bruxelles. In einiger Entfernung von ihnen standen ein paar größere Spielzeugautos herum, die von Wind und Regen schmutzig und verblichen waren. Einem kleinen Bagger, etwa in der Größe einer Ratte, fehlten alle vier Reifen. Ein Polizeiauto lag auf der Seite, wie nach einem Unfall.
    – Pause, sagte Herr Ferenc und deutete auf die Männer.
    Sie winkten ihm zu.
    Wir gingen zurück ins schmale Treppenhaus.
    – Was ist das hier?, fragte ich.
    – Traitement sudorifique, sagte Herr Ferenc.
    – Was bedeutet das?
    – Cure de transpiration.
    Ich sah, was Ferenc meinte. Der Mann auf der Treppe schwitzte ganz außerordentlich. Er schien von uns, die wir zwei Treppenstufen über ihm stehen geblieben waren und

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