Indigo (German Edition)
erstem Romandurch den Kopf: Ich bin menschenleer. Der Zeitpunkt, an dem ein Wesen tatsächlich aufhört, sich von anderen bewohnt und bevölkert vorzukommen, und dieser beängstigende Punkt in der Geschichte, als den Menschen klarwurde, dass sie keine Homunculi in sich trugen, dass der Mann in seiner Samenflüssigkeit keine mikroskopischen Kopien seiner selbst in die Frau einpflanzt, die dann in gleichbleibender Proportion der Glieder vor sich hin wachsen. Wie muss sich diese plötzliche Erkenntnis angefühlt haben, dass wir von Aliens bewohnt werden, Bakterienkulturen und Hautmilben, die sich von abgestorbenen Schuppen und Zellen ernähren und den ganzen Tag, wie treue Hausmeister oder Platzwarte, auf einem winzigen Hautareal, das wahrscheinlich nicht viel größer als eine Briefmarke ist, herumwandern und ihre mechanische Abgrasarbeit verrichten? Die Diskussion in Swifts Gulliver fiel mir ein, wo Gelehrte des Hofs von Brobdingnag, des Landes der Riesen, darüber diskutieren, ob dieser kleine Mensch, den sie in einem Feld gefunden haben, nun eine Art Automaton, ein sprachgelehrtes Uhrwerk ohne Seele, oder tatsächlich ein Mensch sei. Wenn ich mich recht erinnerte, wird die Streitfrage, trotz Gullivers Fähigkeit zur intelligenten Interaktion mit den Gelehrten, erst durch die Vermessung seiner Glieder zu seinen Gunsten entschieden. Ich betrachtete meine schaumige Hand, von der die Wassertropfen fielen. Und hatte nicht der Arzt Sir Thomas Browne im siebzehnten Jahrhundert in einer Abhandlung von seinem seltsamen Schauder berichtet, als er beim Sezieren eines Gehirns eine Windung entdeckte, die ihn – auf ähnliche Weise, wie es der Mann im Mond schon seit Jahrhunderten tut – selbst bei geringem Fantasieaufgebot an eine winzige menschliche Gestalt erinnerte, eine Art stille, nicht mehr benötigte Bauanlei-tung für das Ganze, das tot vor ihm auf dem Operationstischlag? Bestimmt hatte er sich gefragt, ob nicht auch in seinem Gehirn so eine Form vorhanden war, die in diesem Augenblick die exakt gleichen Bewegungen (das Schneiden, das Durchtrennen von Gewebe, das Festhalten, Drehen und bei Licht Studieren) ausführte wie er und vielleicht zu diesem unerhörten Kunststück wiederum einer verkleinerten Version ihrer selbst bedurfte, und immer so weiter, bis in alle Ewigkeit, ein fraktaler Vorgang wie bei Benoît Mandelbrots heiligem Apfelmännchen, das nach langem, langem Tiefenzoom durch die Randbezirke seiner verschiedenfarbig schillernden Täler und Seen und Inseln uns immer wieder sich selbst präsentiert, in seiner Winzigkeit wunderbar konserviert und identisch mit dem Großen, eine in beide Richtungen fortsetzbare unendliche Reihe.
– Hallo? Sind Sie noch da?
Ich blickte auf. Im beschlagenen Badezimmerspiegel hatte jemand eine Fingerschrift-Nachricht hinterlassen. Aber sie war zu unscharf und zu oft überhaucht worden, als dass man sie noch hätte lesen können. Wunderblock.
– Ja, sagte ich. Was? Äh, ist nur Wasser. Hält das Gehirn wach.
Frau Stennitzer machte ein Geräusch, als sauge sie an einer Zigarette. Dann hustete sie und sagte:
– Ja, Wasser ist notwendig für ... Aber Herr Setz, störe ich Sie wirklich nicht?
– Nein, sagte ich, ich bin nur gerade in der Badewanne ... Ich bade gern, wissen Sie.
– Ach so. Ja. Natürlich. Sie sind in der Badewanne. Na, dann will ich Sie –
– Nein, Sie stören mich ja nicht. Sie wollten mir gerade von Ihrem Sohn erzählen, und ich hab dann ... ich war kurz abgelenkt.
Die Kopfschmerzen wurden von dem Wasser, das ich mir ständig über die Stirn goss, zwar ein wenig besser, aber als Frau Stennitzer zu sprechen begann, kamen sie wieder. Eine Sonne, die hinter dem Bergrücken wartete und jeden Augenblick unvermittelt aufgehen konnte.
Ich schloss die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Ich sah fraktale Wirbel vor mir, das Seepferdchental. Männchen, die schwanger werden und winzige Kopien ihrer selbst in die Welt entlassen. Söhne, Planeten.
– Ja, also, sagte Frau Stennitzer. Deswegen rufe ich Sie ja an. Christoph lässt Sie grüßen, er hegt wirklich keinen Groll gegen Sie, Herr Setz. Und die Artikel, na ja, die liegen ja jetzt auch schon eine ganze Weile zurück, nicht? Ja, und ... Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie jederzeit bei mir willkommen sind und dass Sie sich keine Sorgen machen müssen. Christoph hat zwar, da will ich gar nicht drum herumreden, seine Probleme mit dem Transfer gehabt, natürlich, er kommt ja
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