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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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entgleiten. Das Zittern und Flimmern nahm zu, die Farben an den Rändern wurden psychedelischer ...
    Herr Ferenc drückte auf Play.
    Die plötzlich wieder einsetzende Bandbewegung brachte den dreidimensionalen Raum zurück, ich taumelte einen Schritt vorwärts.
    – Ça va?
    – Geht schon, sagte ich.
    Ein etwa sieben oder acht Jahre altes Mädchen saß in einer etwas seltsamen Haltung auf einem Stuhl. Sie wand sich hin und her, beugte sich über ihre Knie. Dann begriff ich: Das Kind war festgebunden.
    – Okay, schalten Sie aus, sagte ich und wandte mich ab.
    – Aber ...
    – Nein, ich kann das nicht anschauen. Das ist zu schrecklich.
    – Ja, das ist schrecklich, sagte Herr Ferenc leise. Aber Sie müssen doch wissen, auf welcher Art von Planet Sie wohnen seit ... seit wie vielen Jahren?
    Ich wandte mich wieder ihm und dem Bildschirm zu.
    – Wie?
    – Wie alt sind Sie?
    – Fünfundzwanzig.
    – Na, dann wissen Sie es doch. Aber sehen Sie, da, dem Mädchen passiert nichts. Sie ist nur an... ange... sie hängt hier fest, sehen Sie?
    – Ja. Bitte, schalten Sie es ab.
    – Aber warum?
    – Weil ich es nicht aushalte. Es ist grauenvoll. Herr Ferenc drückte auf Stopp. Der dunkle Bildschirm war eine solche Wohltat, dass ich tief durchatmen und für einen Moment die Augen schließen konnte.
    – Sie wollen nicht sehen, was passiert?
    – Darf ich mich kurz setzen ...?
    – Mais oui, bien sûr ... Hier, bitte.
    Er hob einen Stapel alter Magazine von einem Sessel. Ich setzte mich und lehnte den Kopf zurück.
    – Beschreiben Sie mir, was passiert, sagte ich. Ich will es wissen, aber ich kann es mir nicht ansehen.
    – Warum wollen Sie, dass ich es Ihnen sage?
    – Es ist ... Na ja, so ist es leichter. Ich kann mir nicht ansehen, wie dieses Mädchen gequält wird.
    – Es wird nicht gequält.
    – Es ist doch festgebunden!
    – Ja, aber ...
    – Das ist doch Folter! Wer bindet denn ein Kind an einenStuhl, in irgendeinem ... Gefängnis oder wo auch immer das aufgenommen wurde ... Das ist doch krank, ich meine, das ist ... Bitte, ich kann so etwas nicht anschauen.
    Und da er mich immer noch verständnislos anstarrte, setzte ich auf Französisch, der Sprache, die ihn tiefer treffen musste als das Deutsche, hinzu:
    – C’est atroce.
    Er nickte, legte die Fernbedienung auf den kleinen Tisch. Dann räusperte er sich, wartete ein wenig und sagte:
    – Aber trotzdem wollen Sie, dass ich es Ihnen erzähle?
    – Na ja, sagte ich. Ich muss doch wissen, was passiert.
    – Aber woher wissen Sie, dass meine Version stimmt? Wenn Sie es nicht mit eigenen Augen sehen, dann werden Sie nie sicher sein können. Vielleicht lasse ich etwas aus? Oder ich erinnere mich nicht an alle Details?
    Ich konnte ihm nicht direkt in die Augen sehen. Auf
    meinen Knien entdeckte ich Wischspuren einer weißen, pulvrigen Substanz. Vielleicht von einer Mauer, abbröckelnder Verputz.
    – Ich finde, Sie sollten es sich ansehen.
    – Tut mir leid, ich kann nicht.
    Als wir wieder auf der Straße waren, sprach Herr Ferenc sanft auf mich ein. Er sagte, er würde mir gerne etwas Gutes tun. Irgendeine Geste. Einen Gefallen. Sozusagen als Wiedergutmachung. Er habe mir keine Angst einjagen wollen, er habe geglaubt, dass ich deswegen zu ihm gekommen sei. Um zu sehen.
    Der Himmel war bewölkt, die Luft roch nach gerade gefallenem Regen auf Asphalt.
    Er könnte mich mitnehmen, bot Herr Ferenc an, auf Partys, wo man Vertraulichkeitserklärungen unterzeichnen musste, um reinzukommen. Dann klopfte er mir auf die Schulter und lachte. Er habe nur gescherzt.
    Dann brachte er mich zu dem Club mit dem flämischen Namen Getuige X-1. Es war ein finsterer, um diese Tageszeit (später Vormittag) spärlich gefüllter Keller. Eine Art Türsteher musterte uns, rührte sich aber nicht von der Stelle.
    Der Vorhang ging auf, und eine Gestalt betrat die Bühne. Zu beschwingtem Benny-Goodman-Jazz begann sie zu tanzen. Ihre Beine sahen normal entwickelt aus, das Gesicht war das eines etwa dreißigjährigen Mannes. Nur an der Stelle, wo der Oberkörper sein sollte, war beinahe nichts, nur ein geschrumpftes Körperversatzstück, ähnlich einem dicken Hals. Nach der kurzen Tanzdarbietung kam ein Mann mit Zylinder auf die Bühne, fasste die Gestalt am Hals und trug sie fort, während sie sich mit gleichgültigem Gesicht immer noch weiter bewegte.
    Die Leute applaudierten verhalten. Ein kurzer Pfiff ertönte. Ich hatte mich weit nach vorne gelehnt, um zu

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