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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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alles zu studieren. Aber dann fiel er vor Erschöpfung einfach um, strampelte sich im Liegen aus dem Mantel und schlief einige Stunden, und im Traum war eine goldene Tuba die Einzige, die seine Sprache verstand, was ihn aus irgendeinem Grund so traurig stimmte, dass er gegen drei Uhr morgens mit Tränen in den Augen erwachte.



9  Getuige X-1,
Rue des Minimes
    [Grüne Mappe]
    – Kein Grund, sich zu schämen, sagte Herr Ferenc am nächsten Morgen. Es ist die Natur.
    – Was meinen Sie?
    – Wir sind Europäer. Wir sind imstande, Menschen zu foltern, wenn davon unser Kopfweh besser wird. Ich glaube, etwas stimmt nicht mit uns. Wahrscheinlich unser Erbgut. Schwer zu sagen, was genau da schiefgegangen ist, oder wann. Aber vielleicht waren es die vielen Seuchen, die wir überlebt haben. Wir waren die Ersten, die in Städten gelebt haben, die so verdreckt waren, dass gleich eine ganze Reihe völlig neuartiger Krankheiten entstanden ist. Bakterien, Viren. Wir haben sie sozusagen gezüchtet, in uns, sind reihenweise an ihnen verreckt, und nur wenige sind übrig geblieben. Und die haben die Seuchen dann in die Neue Welt geschleppt, und die dort drüben sind beinahe ausgestorben. So einfach ging das damals. Aber irgendwas stimmt nicht mit uns, wir sind nicht ganz richtig in der Welt. Wir fügen uns nicht ein, die Natur hat uns nichts zu sagen. Vielleicht sind wir die Abkömmlinge von Außerirdischen – und nicht die Asiaten, wie’s die gängigen Theorien behaupten.
    – Die Asiaten? Was für eine Theorie soll – 
    – Und dieser robustere Körper unserer Urahnen, wer immer sie waren, hat einen défaut du matériel sozusagen. Fehler in der Hardware. Die Gedanken laufen in merkwür-digen Bahnen. Dadurch entsteht sehr viel Kunst. Ja, auch subversive, natürlich. Aber wir würden wahrscheinlich auch einen ganzen Kontinent im Meer versenken, bloß damit wir ein bisschen weniger einsam sind. Wir hören zum Beispiel gern Menschen schreien. Hören Sie nicht gern Menschen schreien?
    – Ich? Nein, ich weiß nicht ... Auf keinen Fall, nein.
    – Wo kommen Sie her, darf ich das fragen?
    – Ich verstehe wirklich nicht, was Sie mir sagen wollen.
    – Okay, sagte Herr Ferenc und hob die Hand. Ist gut. Ich wollte nicht ... Aber Sie kennen Dürers Engel, oder?
    – Engel ... Nein, ich weiß nicht.
    – Aber natürlich kennen Sie ihn, das ist ein berühmtes Bild, der Engel, der zwischen allerlei Objekten sitzt und das Kinn auf die Hand stützt?
    – Die Melencolia?
    – Ja. Was würde der Engel wohl machen, wenn er einen Mann hinter sich brennen sähe? Oder er sieht am Horizont einen geräderten Menschen, der zwischen den Radspeichen hängt und den die Geier zernagen? Oder eines dieser Katzenopfer im Mittelalter, wo sie eine Katze bei lebendigem Leib ... äh ... eingenäht – 
    – Aaah, machte ich. Bitte nicht.
    Herr Ferenc lachte.
    – Warten Sie, sagte er. Ich schicke das bald an Olivier in Bécs ... Darf ich es Ihnen zeigen?
    – Was ist das?
    – Die Folgen einer Relokation, sagte Ferenc.
    Allein die Tatsache, dass es sich um eine alte VHS-Kassette handelte, verlieh dem Ganzen einen Hauch von Bedrohlichkeit: Niemand hatte das Band in all den Jahren überspielt.
    Zuerst flimmerten nur weiße Streifen, dann fiel plötzlich die Gestalt eines sitzenden Kindes von oben in den Bildschirm. Über ihm schwebte in weißer Schrift der Minuten, Sekunden und Zehntelsekunden zählende Timecode einer Videokamera.
    Herr Ferenc drückte auf Standbild. An den Rändern zittrig und unscharf, zerfließend in Spektralfarben wie die giftigen Regenbogen in Ölpfützen, fror das Videobild ein.
    – Ist alles in Ordnung?, fragte er.
    – Mit mir? Ja.
    – Vous saignez du nez, sagte er lächelnd.
    Ich griff mir an die Nase. Ein roter Punkt auf meinem Finger.
    – Danke, murmelte ich und kümmerte mich um mein Nasen-bluten.
    Es war gleich wieder vorbei, kaum der Rede wert. Die Lufthansa-Serviette, die ich gestern im Flugzeug eingesteckt hatte, nahm ein paar rote Flecken auf.
    Der Kopf des Mädchens auf dem Bildschirm ruckelte währenddessen stetig nach unten, als wüsste das auf Magnetband gebannte Wesen, dass es zwar im Standbild gefangen war, aber doch unbedingt versuchen musste, zu entkommen. Die Bildpunkte des Fernsehschirms wurden allmählich zu Sandkörnern, die von Vibrationen zum Rieseln gebracht wurden. Der Videorekorder war so alt, dass es ihn Kraft und Mühe kostete, das Standbild zu halten. Gleich würde es ihm

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