Indigo (German Edition)
sich über ihn unterhielten, keine Notiz zu nehmen. Sein Kopf war frisch geschoren wie der eines Klosternovizen. Auf seinem Hemdrücken zeichnete sich ein riesiger v-förmiger Schweißfleck ab.
– Ah, fuck you, sagte er leise, und ein Schaudern ging durch seinen Körper.
Er streckte den Arm aus und berührte mit junkieartig verkrümmten Fingern die Wand. Als wäre sie brennend heiß, zuckte er zurück, führte die Finger schnell zum Mund und saugte an ihnen. Ich machte den Versuch und berührte die Wand ebenfalls. Eine gewöhnliche, kühle Mauer.
– Voulez vous lui donner un coup de pied?
– Was?
– Haben Sie Lust, ihn zu treten?
– Warum sollte ich das tun?
Herr Ferenc stieg eine Stufe nach unten und berührte den Mann sanft am Kopf. Der Mann zuckte zusammen und wand sich, als hätte man ihm einen brutalen Schlag verpasst. Dann holte Herr Ferenc aus und boxte ihm mit ganzer Kraft gegen die Schulter. Der andere schien den zweiten Schlag gar nicht zu bemerken, sondern hielt sich weiter jammernd die Stelle am Kopf, die ihm augenscheinlich sehr weh tat.
– Das ist die neue Lieferung. Da hinter der Wand. Ist gestern Morgen angekommen. Morgenstund’ hat Gold im Mund. Und ich hab mir das für ihn überlegt. Hier.
Herr Ferenc zeigte mir das kleine Spielzeugmodell einer Seilbahn, noch originalverpackt.
– Kommen Sie morgen wieder, sagte er. Dann gehen wir rein. In den Tank.
Im Hotel lag ich in der Badewanne und goss mir mit der hohlen Hand warmes Wasser über den Kopf. Eine Kelle nach der anderen. Nach einer Weile rief mich Julia an und fragte, was denn los sei. Ohne mir die Mühe zu machen, nachzufragen, warum und woher sie wisse, dass etwas nicht stimmte, erzählte ich ihr von dem grauenvollen Gespräch mit Ferenc, dem bizarren Treppenhaus, der originalverpackten Modellseilbahn, dem Video und schloss mit der Beschreibung der eindrucksvollen Stahlkonstruktion mit den Raben gestern im Park, als mich Julia unterbrach und sagte, zu Hause habe vor einer Stunde oder so eine etwas verstört wirkende Frau angerufen, die sie zuerst gar nicht verstanden habe. Gudrun Stennitzer.
– Okay, ich rufe sie gleich zurück.
– Ja, tu das.
– Übermorgen bin ich wieder zu Hause, murmelte ich, bevor ich mich von Julia verabschiedete.
Ich wählte die Nummer. Roaming-Gebühren, dachte ich müde.
– Stennitzer?
– Frau Stennitzer, wie geht es Ihnen?
– Oh, Herr Setz! Danke, dass Sie zurückrufen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei etwas Wichtigem.
– Nein, ich bin nur gerade in ... ach, egal. Was kann ich für Sie tun?
– Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe? Sind sie vielleicht gerade unterwegs? Oder im Ausland?
– Nein, alles okay, ich bin zu Hause.
– Sicher?
– Ja, ich bin mir sicher.
– Okay, sagte sie. Zu Hause. Ja, also ... Ich wollte Ihnen nur sagen, dass alles glücklich verlaufen ist.
– Was denn?
– Ach, Herr Setz, sagte sie kichernd, als hätte ich einen Scherz gemacht. Na ja, Sie können sich sicher vorstellen, was so ein Transfer für einen jungen Menschen wie Christoph bedeutet. Er ist innerlich so eigenartig, wissen Sie. Er ist nicht wie andere Menschen, er ist eher wie eine Landschaft, das heißt ganz in seinem Inneren, manchmal kommt er mir vor wie eines dieser Lagerhäuser von großen Betrieben, was weiß ich, IKEA oder Ähnliches, diese Hallen entlang irgendwelcher Straßen, die alle aus der Stadt hinausführen, verbaute Areale, wo man nichts Geborgenes, keinerlei Anhaltspunkt findet, außer vielleicht ein paar grasbewachsene Streifen, wissen Sie? So wie diese kleinen Grüninseln zwischen den Parkplätzen. Aber sonst ... nur Hallen und schmutziger, nasser Stahl und Industriemüll auf Gabelstaplern und so weiter, wie in der Anfangssequenz von diesem schrecklichen, düsteren russischen Science-Fiction-Film, mein Gott, den hab ich vor Jahren einmal gesehen, und seither habe ich immer Angst, dass ich eines Nachts beim Herumzappen plötzlich wieder hineingerate. Ich schalte meistens sofort weiter, wenn ich auf einen Schwarzweißfilm stoße und die Schauspieler nicht sofort erkenne.
Ich goss mir noch einmal Wasser über den Kopf. Dabei musste ich das Handy ein wenig in die Höhe halten, damit es nicht nass wurde. Die Charakterisierung von Christophs Innenleben hatte mich durcheinandergebracht. Wieder hatte ich das Gefühl, eine vorbereitete Aussage, wie sie ein gekaufter Zeuge vor Gericht macht, gehört zu haben. Und mir ging ein Satz aus Josef Winklers
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