Indigo (German Edition)
regenerieren mit der Zeit, aber die anderen … treiben immer weiter raus, in ihrer Raumkapsel.
Sie verstummte. Ich wartete, bis sie weitersprach.
– Nun, es ist erfreulich, sagte Frau Häusler-Zinnbret schließlich, dass Sie sich doch ein wenig in die Materie eingelesen haben, bevor Sie zu mir gekommen sind. Viele Besucher tun das nämlich überhaupt nicht, wissen Sie. Aber ich empfange sie natürlich alle, ausnahmslos, es sei denn, sie werden wirklich unverschämt. Das heißt so richtig, richtig unverschämt. Aber das kommt Gott sei Dank kaum vor.
Sie lehnte sich vor und nahm das Buch, das sie mir geschenkt hatte, in die Hand. Aus der Seitentasche ihrer Strickweste zog sie einen Kugelschreiber. Sie schlug die erste Seite auf.
– Soll ich etwas für Sie hineinschreiben …?
Da ich nicht wusste, was ich antworten sollte, nickte ich einfach und schlug mein Notizbuch zu. Frau Häusler-Zinnbret schrieb eine Widmung, setzte eine schwungvolle, ein wenig an Spirograph-Bilder erinnernde Unterschrift darunter und fragte mich dann nach dem Datum.
– Heute ist der …?
– Einundzwanzigste.
Sie schrieb das Datum dazu, blies unerklärlicherweise auf die Buchseite und übergab mir das Geschenk.
– Vielen Dank.
– Wie Sie sehen, hat die Schreibschrift gewisse Vorteile, sagte sie und deutete auf ihre Unterschrift. Sie sollten sie üben. Jeden Tag eine halbe Stunde oder einfach nur zehn Minuten, es spielt keine Rolle, solange Sie es wirklich jeden Tag machen.
– In Ordnung.
Ich stand auf. Wir gaben uns die Hand.
Frau Häusler-Zinnbret begleitete mich noch bis zur Tür, diesmal war es die andere. Ihre Wohnung hatte, wie mir jetzt klarwurde, separate Eingangs- und Ausgangstüren, wie ein Supermarkt oder ein Spiegelkabinett auf dem Rummelplatz.
Draußen war der Himmel so blau, dass man eine Stecknadel darin hätte fallen hören.
Zwei Wahrheiten
Nach dem Gespräch mit der Kinderpsychologin las ich ein wenig in dem Buch, das sie mir geschenkt hatte, der Neuauflage ihres Standardwerks. Die veraltete Version hatte ich aus der Uni-Bibliothek entlehnt. Einige interessante Seiten hatte ich mir kopiert und in meine rotkarierte Mappe gelegt.
Die neue Auflage unterschied sich nur wenig von der früheren. Der Ton schien an manchen Stellen etwas strenger, und es gab einen erweiterten Anhang, in dem Frau Häusler-Zinnbret eine Art Rückschau auf ihre bisherigen Studien veranstaltet. In ihrem typischen bild- und beispielhaften Stil schreibt sie:
Eine einsame Büste von Wladimir Iljitsch Lenin blickt in die Polarnacht. Das Denkmal befindet sich auf dem sog. Südlichen Pol der Unzugänglichkeit, dem geografisch am weitesten von der Küstenlinie entfernten Punkt der Antarktis (ca. 800 km entfernt vom Südpol). Früher standen noch ein paar Gebäude einer sowjetischen Forschungsstation um die Statue herum, heute ist sie ganz allein. Sie blickt nach Norden, d. h. in Richtung Moskau. Die Büste selbst steht auf dem Schornstein eines inzwischen ganz im Schnee versunkenen Häuschens, in dem vielleicht noch einige Geister aus der Vergangenheit leben, in endloser Diskussion über uralte Weltkarten gebeugt … Wie im Fall dieser einsamen Büste haben wir es, wenn wir Phänomene wie Dingo Pride oder den Ruf nach einer unzivilisierten Lösung des Indigo-Problems bedenken, immer mit zwei konkurrierenden Wahrheiten zu tun. Die evolutionäre Wahrheit (das unsichtbare, versunkene Fundament) hat allgemein das europäische Stadtbild geprägt: Ausgrenzung und Verwahrung von Kranken, Ansteckenden, Abweichenden etc. Wie bei den Erdmännchen, die einen kranken Artgenossen, der das erfolgreiche Weiterkommen des Rudels gefährden könnte, mit vereinten Kräften totbeißen oder ihn einfach zurücklassen. Kranke Katzen ziehen sich zurück, sterben allein, weil dieser Vorgang ohnehin nicht anders zu bewerk s telligen ist. Die evolutionäre Wahrheit sieht also vor, dass immer ein Teil der Population stirbt, um die Existenz des anderen Teiles zu ermöglichen. Die menschliche Wahrheit (der sichtbare Kopf) sagt: Alle müssen überleben, oder besser: Alle haben das Recht zu überleben. Es ist sinnlos, zu fragen: Warum? Die Frage ist nicht zu beantworten, außer mit Hilfskonstruktionen wie Mitleid und der Vermeidung von Schmerz. Der Grund liegt in unserem Gehirn, das sich in alles hineinleben, hineinversetzen kann, vor allem in die Dinge, vor denen es sich schützen muss: Krankheit, Leid und Tod. Es ist eine seltsame Folge der evolutionären
Weitere Kostenlose Bücher