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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Glühbirne, die ihren Mondhof verloren hat, und, mein Gott, jetzt auch noch das. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte, sich noch einmal auf das Gefühl zu konzentrieren. Will zurück. Nicht nach Hause. Muss dort bleiben.
    Hör auf, hör auf, hör auf! Ich gehe doch nur Kleider holen!
    Als die Straßenbahn an der Haltestelle Merangasse hielt, blieb sein Blick zufällig an dem Schild einer Konditorei hängen. Und als sich die Straßenbahn wieder in Bewegung setzte, merkte er, dass auch die Sorge daran hängen blieb und aus ihm heraus- und fortgezerrt wurde.
    Der Geruch der alten Reisetasche, in die er die Kleidungsstücke für Cordula packen wollte, erinnerte ihn an die schwarze Teerschicht außen an den Lichtenberghäuschen in der Helianau. Robert zog irgendwelche Teile aus Cordulas Schrank, ohne viel darüber nachzudenken, ob sie im Ensemble überhaupt Sinn und Form ergaben. Er suchte auch nach einer Badehaube (den Psychiatrie-Duschräumen war ansteckungstechnisch ja nicht zu trauen), aber er fand nichts, nur ein kleines Nest modischer Sonnenbrillen, die hier überwinterten.
    Der offene Schrank, jetzt hatte er eine andere Aufgabe, er war Versorgungsspeicher, nicht mehr Vanity Case … Offen, gähnend stand er da, innen verspiegelt …
    Wozu das alles?, dachte Robert. Wozu Panikattacken? Er stieß auf ein altes Star-Trek-Hemd, das er Cordula einmal gekauft hatte, ein fruchtloser Versuch, sie in sein Universum zu locken. Es zeigte das Dreigestirn Kirk, Spock und McCoy vor einem roten Hintergrund. Hyperraum, dachte er. Kam das Wort in der Originalserie überhaupt vor? War es ein Star-Trek-Begriff? Erste Folge, Cordula im Hyperraum.
    Ich kann deine Bedenken verstehen, Robin, aber manchmal muss man einem Menschen auch seinen Freiraum lassen. Heilige Elektrokonvulsionstherapie, Batman, du hast recht!
    Auf der Straßenbahnfahrt zurück in die Klinik spürte er nichts. Er saß zwischen Menschenblöcken und war in Sicherheit. Der iBall über der Fahrerkabine blickte woandershin. Robert ertappte sich dabei, dass er dem Schild an der Konditorei im Vorbeifahren freundlich zunickte. Vielleicht war an der Irritation vorhin auch nur eine Erinnerung schuld. Als er aus der Helianau geholt wurde, um seinen Onkel im Krankenhaus zu besuchen. Okay, damals hatten sie ihn natürlich gut abgeschirmt, in mehrerlei Hinsicht. Er konnte sich noch an den Nachmittag erinnern, als er im Hof der Helianau seinem Freund Max (reloziert im Jahr 2006 , Rauchfangkehrer bringen Glück) zugerufen hatte: Mein Onkel leidet an Psychiatrie! Die üblichen Indigo-Bildungsverzögerungen, besonders deutlich im sprachlichen Ausdruck, du septische Sau. Der berühmte Delay. Dingo-Delay. Und Felicitas Bärmann, die Streberin, hatte ihn sofort korrigiert. Halb gestikulierend, halb über den Schulhof brüllend. Was war wohl aus Felicitas geworden? Trafen sich frühere Schüler der Helianau überhaupt noch? Gab es so etwas wie ein Maturatreffen, von dem er ausgeschlossen war? Vielleicht in einem Flugzeughangar oder auf einem Fußballfeld, so wie damals beim Klassenfoto …
    Roberts Onkel Johann war seit frühester Jugend einem eigenartigen Zählzwang unterworfen gewesen, der in späteren Jahren zwar an Vielseitigkeit ab-, dafür an Intensität zunahm. Er hörte auf, Lampen, Badezimmerfliesen, Sommersprossen in Gesichtern oder die Fenster weit entfernter Gebäude zu zählen, und war jetzt nur noch von einer einzigen Zahl besessen, zu der er alle paar Stunden 1 dazuzählen musste. Sie war inzwischen sechsstellig, und wenn man ihn nach ihrem Wert fragte, nannte er ihn, wie aus der Pistole geschossen, zählte aber dann sofort 1 dazu und wiederholte, etwas leiser, den neuen Wert. Ein vernünftiges Gespräch war mit ihm nicht zu führen. Ihn interessierte ausschließlich, was mit dieser Zahl in Zusammenhang stand, etwa die Frage, ob sie nicht vielleicht gerade wieder eine Primzahl war oder eine andere interessante arithmetische Eigenschaft aufwies – wie in jenemdenkwürdigen Augenblick, als sie genau 111111 gewesen war; Onkel Johann war angeblich aus seinem Zimmer gerannt und hatte sich im Gang vor ein offenes Fenster gestellt und dankbar die frische, neue Welt und ihr herrliches Licht begrüßt, mit einer leidenschaftlichen Kusshand und einem etwas schief geratenen Kreuzzeichen, das einen der Pfleger auf ihn aufmerksam gemacht hatte und zu einem eher unangenehmen Ganggespräch geführt hatte.
    Jeder andere Gesprächsstoff als dieses jeden Tag, jede

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