Indigo (German Edition)
konnte, dass in ihm psychisch kranke Menschen wieder gesund wurden. Allein schon der allabendliche Blick aus dem Fenster! Die ganze Nacht unterhielten sich die Bäume mit rauschenden Gebärden über dich und lasen deine Gedanken.
Wenigstens wuchs hier, gleich neben dem Parkplatz, ein schöner, stiller Baum, der nicht zum Wäldchen zu gehören schien. Wie ein Opernsänger vor dem Chor stand er da, in der unendlich komplizierten Verrenkung, die einen Baum ausmacht. Warum sahen Bäume eigentlich so aus? Sie wuchsen doch nach einem einfachen Prinzip, Gerade, teilen, zwei Geraden, teilen, vier Geraden und so weiter, woher kamen diese verrückten Winkel? Möglich, dass Wasseradern, Magnetfelder oder Sonnenlicht eine Rolle spielten. Vielleicht, dachte Robert, war ein Baum auch einfach nur furchtbar sentimental. Er hatte vor Kurzem mit einigem Abscheu das berühmte Bild des Fotografen David Perlmann in einer Kunstzeitschrift betrachtet, das einen Baum im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania zeigt, der mit seinen Ästen ein weißes Einfamilienhaus quasi von der Seite her umarmt hatte. Zuerst waren die Zweige durch das immer offen stehende Küchenfenster gewachsen, dann hatten sie sich an die Südwand des Gebäudes gelegt, schließlich war auch das Dach an die Reihe gekommen. Innerhalb von dreißig Jahren, in denen ein Ehepaar in dem Haus alt geLässt man allerdings locker, fliegt man mitunter sogar davon – in den Himmel, immer in die falsche Richtung. Und der Baum ist, von seinen vielen minimalen täglichen, stündlichen Richtungsänderungen in seinem Wachstum über die Jahre hinweg, zu einem bizarr verzerrten Gebilde geworden.worden war, das sich um nichts, was außerhalb geschah, gekümmert hatte, war der Baum mit dem Haus verschmolzen. Die Familie, die heute darin wohnte, ließ den lästigen, die Stabilität des aus sehr leichten Materialien gebauten Daches gefährdenden Baum fotografieren, bevor sie den Auftrag gab, ihn zu entfernen. Es war, so berichtete die Zeitschrift, sogar eine Art Wettbewerb ausgeschrieben worden. Das Bild von David Perlmann hatte den ersten Preis gewonnen, weil der Baum darauf so von sich selbst überzeugt aussah. Und vielleicht war das ja das Problem, dachte Robert. Ein Baum wollte immer alles umarmen. Er steht seit hundert Jahren auf demselben Fleck und wird jeden Tag übermannt von seiner Zuneigung zu ein paar Enten im Teich, einem verschlungenen Pärchen auf der Parkbank, einem lustigen, bunt überquellenden Mülleimer oder einer geheimnisvoll gebogenen Parklaterne. Wenn eines der Wesen oder Dinge seine Aufmerksamkeit erregt und der Wunsch, es zu umarmen, überhandnimmt, beginnt der Baum – langsam natürlich, fürchterlich langsam – , in die entsprechende Richtung zu wachsen und seine Zweige wie Arme danach auszustrecken. Es ist wie in den bekannten Geschwindigkeitsträumen, in denen man sich genau dann nicht bewegen kann, wenn man unbedingt will.
Scheißbaum.
Und Scheißpsychiatrie. Ein Vormittag darin, und er dachte vollkommen behinderten Schwachsinn. Scheißbaum, lutsch doch an einem Frisbee, Motherfucker! Um sich endgültig zurück auf den Boden zu holen, sagte Robert ein paar verbotene, radioaktive Wörter auf: Dreckfotze, Judensau, entartet, Nigger. Dann stand er auf.
Nein, diese langen Stunden bei Cordula taten ihm nicht gut. Er dachte dann immer fremde Gedanken, wie von einem anderen, älteren Gehirn eingeflüstert, er fühlte sich ferngesteuert. KeinWunder. Und er schwitzte immer seine Kleider durch, obwohl es gerade mal 22 Grad hatte. Wie nach einem Schwitzbad im elenden Hof der Helianau. Das ekelhafte Gefühl, der Einzige zu sein, dem sie es antun konnten. Weil sein I-Raum, seine Zone, sein Einzugsbereich diese spätpubertären Mondphasen durchmachte, zu- und abnehmend, dann sogar ganz verschwindend. Eine Schweinerei.
Und heute, an diesem Spätsommertag im Jahr 2021 , nachdem er sein frisch gemaltes Affenbild weggeräumt hatte, war er Cordula sehr dankbar, dass es diesmal kein schlimmer Anfall gewesen war. Sie schlief. Sie atmete normal. Sie war gut eingestellt.
5 IN DER ZONE – 1. Folge
von Clemens J. Setz *
Die Pension Tachler in Gillingen
Gillingen ist eine typische südsteirische Kleinstadt inmitten einer hügeligen Weinlandschaft und mit einer weltberühmten Seilbahn, die auch vom Nachbarort Seelwand touristisch beansprucht wird. Sie ist Teil jener – wie Elfriede Jelinek in ihrem Meisterwerk Die Kinder der Toten schreibt – Ausläufer, die
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