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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Stunde um einen gewissen Wert anwachsende Monstrum in seinem Kopf war für den Onkel in einem grotesken Maß uninteressant.
    Dabei schien er selbst an dem Vorhandensein des Zahl-Parasiten gar nicht so zu leiden wie seine Umwelt (die sich nach gewöhnlicher Kommunikation mit ihm sehnte), er verwaltete und pflegte die Zahl wie ein Blumenbeet. Er hatte sie von klein auf begleitet, durch das ganz frühe Stadium 5, 6, 7, dann durch den rasch sich entwickelnden zweistelligen und dreistelligen und schließlich auch durch den adoleszenten, den vierstelligen Bereich, den sie ebenfalls bald hinter sich gelassen hatte. Man könnte behaupten, dass die Zahl sich nun allmählich dem reifen Erwachsenenalter näherte. Jeden Abend wurde sie von ihm in ein kleines Notizbuch eingetragen, was nur als eine Art Zusammenfassung des Tagesgeschehens gedacht war, nicht als Erinnerungshilfe. Denn die Zahl selbst vergaß er nie, nicht einmal nach siebzehn Stunden Schlaf unter der Einwirkung starker Beruhigungsmittel. Sie blieb in ihm.
    Manchmal, wenn die Zahl eine unauffällige Phase vor sich hatte, war der Tag ein guter, dann konnte man mit ihm spazieren gehen oder ihn zu einem Eis ins stille Café gleich hinterm Eingang der Klinik einladen. Er saß auf einem der Plastikstühle, war ansprechbar und ruhig und sogar fähig, einen Witz zu machen. Man kam mit ihm aus. Hin und wieder sah man an einem stummen Nicken, dass er wieder 1 hinzugezählt hatte und nun den Geschmack und die Gestalt der neuen Zahl auf sich wirken ließ. Leckte er sich die Lippen, konnte man davon ausgehen, dass er mit ihr zufrieden war. Aber auch wenn die Zahl nicht seinen Vorstellungen entsprach, war er der neuen Zahl deswegen niemals böse, für ihr Aussehen und ihr Verhalten konnte sie nichts, sie war ja gerade erst geschlüpft und brauchte Zuwendung, genauso wie alle anderen Zahlen. Wer weiß, vielleicht würde sie noch ein paar schöne Teilbarkeitseigenschaften offenbaren, verborgene Talente, die ihm auf den ersten Blick entgangen waren.
    Dass die Zahl immer weiter wuchs, beunruhigte ihn nicht weiter, es gehe ja schön Schritt für Schritt, erklärte er. Klar, wenn er plötzlich eine dreistellige Zahl hinzuaddierte und so Hunderte andere Entwicklungsstufen der Zahl überspränge, dann würde das bestimmt einiges durcheinanderbringen. Das wäre dann so, als würde man versuchen, ein Auto in einem zu hohen Gang zu starten. Aber so wie es jetzt lief, jeden Tag etwa fünfzig Schritte, das war zu verkraften, davon wurde man nicht allzu sehr in Anspruch genommen. Denn er sei sich sehr wohl der Bedrohung bewusst, die von so einer Begleiterzahl ausgehe. Wie leicht könnten Menschen mit weniger robustem Nervenkostüm als er in der Ziffernfolge einen Geheimcode oder eine Botschaft aus dem Jenseits oder aus anderen Bereichen des Himmels vermuten. Ihm sei vollkommen klar, dass die Zahl nur eine Zahl sei, nicht mehr und nicht weniger. Er gebe auf sie acht und er gehe verantwortungsvoll mit ihr um. Noch nie sei ihm ein Fehler unterlaufen, habe er einen Zählschritt zweimal gemacht oder zwei Ziffern im Inneren der Zahl vertauscht, nein, die Zahl sei bei ihm völlig sicher. Ihr könne nichts geschehen, auch wenn einige Leute behaupteten, man werde sie ihm eines Tages wegnehmen. Er wisse, dass das gar nicht möglich, ja ein Widerspruch in sich sei. Er werde jedenfalls seinen Fürsorgepflichten gegenüber diesem kostbaren und schutzlosen Wesen weiterhin nachkommen, denn er, Johann Rauber, sei nun einmal der einzige Beschützer, den die Zahl auf der ganzen Welt habe. Nicht auszudenken, was ihr ohne ihn alles zustoßen könnte.
    Robert saß auf einer Bank vor der psychiatrischen Klinik des LKH Graz. Es war immer etwas falsch an psychiatrischen Einrichtungen, das heißt im architektonischen Sinn. Entweder waren sie so groß und labyrinthisch wie ein Justizpalast, oder der Architekt hatte die Metapher Krankheit wörtlich genommen und auf die Dachkonstruktion übertragen, oder sie waren einschüchternd in der Art, wie die Türen von selbst aufsprangen, oder sie waren, so wie dieses Gebäude hier, im Wald versteckt. Alle anderen Kliniken erreichte man, indem man von der Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 7 aus über ein paar Treppenstufen nach oben stieg, von da an war alles logisch, sogar die Wegweiser ergaben Sinn. Nicht so die Psychiatrie. Man musste einen dunklen und verwunschenen Waldweg entlanggehen und stieß auf ein Bauwerk, von dem man sich beim besten Willen nicht vorstellen

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