Indigo (German Edition)
sich der Berg schon in die Hosentaschen stopft.
Als ich mit dem Zug in Gillingen ankam, hing eine angenehm aufgelockerte Wolkendecke über der abendlichen Stadt, die berühmten Gondeln der Seilbahn schwebten in der Ferne über den westlichen Berghang, und im überdachten Wartebereich des kleinen Bahnhofs bemerkte ich zu meinem großen Entzücken einen Mann, der ein altmodisches Hochrad hinaus in die Sonne schob. Ich trödelte noch ein wenig vor dem Bahnhof herum, weil ich sehen wollte, wie der Mann auf sein Hochrad klettern und damit davonfahren würde. Aber er tat nichts, er schien auf etwas zu warten, blickte auf die Uhr, wandte sich in alle Windrichtungen und schaute. Nach etwa zehn Minuten ging ich enttäuscht davon.
Auf dem Weg zum Hotel rief ich meine Freundin Julia an. Sie hörte sich meine Beschreibung an und fragte hinterher, ob der Mann einen Schnurrbart gehabt habe. Ich bejahte, obwohl ich mir gar nicht sicher war. Dann stimmten wir noch darin überein, dass Männer mit Hochrädern unbedingt immer einen Schnurrbart tragen müssten, und beendeten das Gespräch. Ich hatte die Pension Tachler ohnehin schon fast erreicht.
Das große Gebäude mit dem Betten-frei-Schild unter dem Giebel lag in direkter Nachbarschaft zu einer weitläufigen Gastwirtschaft namens Ernst’l. Auf einer mit Kreide beschriebenen Tafel, die auf dem Gehsteig stand, waren die heutigen Mittagsgerichte verzeichnet: Schweinsschnitzel mit jungen Erdäpfeln; ½ Backhendl; gekochtes Rindfleisch mit Sauerkraut.
Die Pension selbst machte einen angenehmen Eindruck. Neben der Rezeption hockte ein großer Vogel mit einem auffallend langen Schnabel in einem offenen Käfig. Eine junge Frau saß vor einem Computer und schaute auf.
– Guten Tag.
– Hallo, sagte ich. Clemens Setz. Ich habe ein Zimmer für zwei Nächte bestellt.
– Aha, ja … also … Ja, hier.
Sie hatte den Eintrag im Kalender entdeckt.
– Waren Sie schon mal bei uns?, fragte sie.
– Nein.
– Okay, dann bitte ich Sie, das hier auszufüllen.
Sie gab mir das Formular, ich trug die gewünschten Angaben ein und unterzeichnete es. Während ich schrieb, sah ich aus den Augenwinkeln, wie sich die junge Frau an die rechte Brust griff und sie mit einer selbstverständlichen Bewegung ein wenig zurechtrückte. Ich verschrieb mich bei meiner eigenen Adresse und bat um ein neues Formular.
– Ist schon okay, sagte sie mit einem hinreißenden Lächeln. Gehören Sie auch zu den Skilift-Leuten?
– Skilift? Nein. Ich bin hier nur auf Besuch.
– Ach so, sagte die Frau, anscheinend ein wenig enttäuscht. Aber gut, es sind ja auch schon so viele Leute da wegen dem Skilift, ja … Das wird langsam ein bisschen unheimlich. Aber Sie besuchen jemanden, fein, fein …
Sie legte das Formular in eine Schublade und suchte nach dem Zimmerschlüssel. Sie fand ihn unter einem kleinen Frühstücksteller, den offenbar jemand hier in ihrem Arbeitsbereich abgestellthatte. Seufzend stellte sie den Teller neben den Käfig, wodurch der exotische Vogel aus seinem Dämmerzustand gerissen wurde und auf seinem Käfigast ein paar Schritte seitwärts ging. Skeptisch beäugte er die eigenartige Welt hinter den Gitterstäben.
– Zimmer 14 . Das ist im ersten Stock. Der Lift ist da hinten rechts.
– Danke, sagte ich. Ich hätte noch eine Frage.
– Bitte.
– Kennen Sie sich in der Gegend hier aus?
– Klar, sagte sie und nickte. Wo müssen S’ denn hin?
– Ich hab’s mir hier aufgeschrieben … Da muss ich morgen früh hin … Augenblick …
Ich kramte nach dem Zettel in meiner Manteltasche, machte die ganze Sache noch etwas spannender, indem ich so tat, als fände ich ihn nicht auf Anhieb, probierte die eine Tasche, dann die andere. In Wirklichkeit wusste ich die Adresse auswendig und hatte sogar das Satellitenbild im Internet studiert, aber hier, in diesem kleinen Ort, in dem jeder jeden kannte, war es bestimmt aufschlussreich zu erfahren, wie die Leute zur Familie Stennitzer standen.
Ich schob der jungen Frau den Zettel hin und konzentrierte mich auf ihr Gesicht.
Fam. Stennitzer
Glockenhofweg 1
8910 Gillingen
Der Blick der Frau wurde leer, dann wachsam, dann schien sie sich wieder zu entspannen. Informationen wurden abgerufen. Vielleicht sagt ihr der Name nichts, dachte ich. Unwahrscheinlich, aber möglich. Als sie zu sprechen begann, war ihr anzumerken, dass ich mich in ihren Augen soeben in etwas Unheimliches verwandelt hatte.
– Da gehen Sie am besten hier
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