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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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gleich raus, also vor das Haus, ja? Also, nein, noch mal, Sie gehen aus dem Haus, ja? Und dannrechts, die Straße rauf bis zum Hügel und dort dann links, also immer rauf … bergauf, das müsste eigentlich …
    Sie legte eine Hand auf den Schlüssel, schob ihn mir hin.
    – Vielen Dank, sagte ich.
    – Die wohnen ziemlich weit draußen, sagte sie.
    Es klang ein wenig wie eine Warnung, deshalb sagte ich:
    – Das werde ich sicher schaffen. Was meinen Sie?
    – Bitte?
    – Ich meine, zu Fuß. Das geht doch, zu Fuß, oder?
    – Ja, sicher, das geht alles. Ganz oben auf dem Hügel. Einfach immer weiter bergauf und …
    Ich hielt ihrem Blick stand und tat so, als müsste ich die wichtigen Informationen, die sie mir gegeben hatte, erst einmal abspeichern. Als der Vogel in seinem Käfig ein ratschendes Geräusch von sich gab, zuckte die Frau heftig zusammen.
    – Danke, sagte ich und ging zum Lift.
    Während ich wartete, schaute ich noch mal zur Frau hinüber. Sie streckte durch die offene Käfigtür dem Vogel einen Finger entgegen, der sie aber nicht weiter beachtete.
    – Na, du?, hörte ich sie leise sagen. Hast dich erschreckt, hm?
    Der Schlüssel hing an einem kleinen Holzstück, auf dem Jenga stand. Ich stellte mir vor, wie ein frustrierter Mensch nach dem Kollaps seines Jenga-Turmes die Steine durch das Zimmer schmeißt und beschließt, sie alle zu Schlüsselanhängern zu verarbeiten.
    Das Zimmer war klein und roch minzig.
    Der Lichtschalter im Badezimmer aktivierte, neben zwei flackernden Leuchtstoffröhren über dem Spiegel, auch eine Entlüftung, deren Ton ein wenig an das Brummen von Laubgebläsemaschinen im Herbst erinnerte. Im Waschbecken stand eine Blumenvase, halb mit Wasser gefüllt.
    Wie immer, wenn ich abends allein in einem Hotelzimmer war, schaltete ich den Fernseher ein. Harmlose Stimmen, Menschenund Vorgänge, die nichts mit mir zu tun hatten, machten das Zimmer ein wenig wärmer. Erst dann konnte ich die Vorhänge zuziehen, ohne dass eine leichte Einsamkeitspanik von mir Besitz ergriff.
    Ich setzte mich in den breiten Sessel vor dem Fenster und schaute hinaus, in die Gegend im Abendlicht. Dieses Gefühl, wenn man aus einiger Entfernung auf eine Landschaft oder eine Stadt blickt, in der man einen bestimmten Menschen vermutet. Die eigentümliche Färbung, wie die an Unterwasseraufnahmen erinnernden TV-Bilder aus den Siebzigerjahren mit ihren ineinander übergehenden Farben, ihren abgerundeten Ecken und dem hellen, unnatürlich flimmernden Orange, in das sich gewöhnliches Sonnenlicht verwandelt. Die Gewissheit: In einem dieser Häuser, in einer dieser Straßen. Hervorstechende Bauelemente beginnen zu winken, dunkle Flecken senden Signale. Bäume stehen still wie für ein Gruppenfoto. Gillingen: eine Kirchturmspitze, ein paar Häuser, eine Handvoll Geschäfte. Bewaldete Hügel in der Umgebung. Dies also war die Heimatstadt von Christoph Stennitzer, vierzehn Jahre alt, seit seinem ersten Lebensjahr hochgradig vom Indigo-Syndrom betroffen. Seiner Mutter gehörte ein mittelgroßer Holzverarbeitungsbetrieb, das heißt, vor einigen Jahren hatte sie ihn in mehreren Schritten verkauft, als Christophs Zustand schlimmer und schlimmer geworden war.
    Genau diese Worte hatte Gudrun Stennitzer in der E-Mail, die sie mir geschickt hatte, verwendet: Als Cs Zustand dann schlimmer und schlimmer wurde. Natürlich war Christoph ein gesundes, äußerlich nicht weiter auffälliges Kind. Einmal hatte er die Masern gehabt, ein andermal eine schwere Grippe mit einer leichten Lungenentzündung, derentwegen er für eine Woche ins Krankenhaus musste, aber davon abgesehen war alles mit ihm in Ordnung. Würde man ihn in einem Videofilm sehen, könnte man nicht den geringsten Unterschied zu anderen Kindern feststellen. Das Problem, der Zustand , lag woanders.
    Christoph wohnte in einem eigenen etwa vierzig Quadratmeter großen Haus, das über Bad und WC verfügte und sogar – wie ich dem Foto im E-Mail-Anhang entnehmen konnte – über eine Satellitenschüssel, die auf dem Dach montiert war. Er hatte es an seinem dritten Geburtstag bezogen. Er war begeistert, hatte mir seine Mutter geschrieben. Ein eigenes kleines Häuschen, nur für ihn.
    Nachdem ich die Vorhänge zugezogen hatte, kam das unangenehme Hotelzimmergefühl doch noch und schnürte mir die Kehle zu, also konzentrierte ich mich einige Minuten lang auf die Bilder im Fernseher und wartete, bis es vorüberging. Dann schaltete ich die Leselampe auf dem

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