Indigo (German Edition)
absolutes Meisterwerk. Sein Bewusstsein löste sich in Lärm und Geschrei auf, wurde weich und durchlässig wie eine Membrane …
Was ihn wieder zurück auf die Erde holte, war sein Handy, das kurz aufleuchtete. Eine SMS – von seiner Mutter, die im Nebenzimmer saß! Vergiss nicht den Auflauf, schrieb sie. Himmel, Arsch und Tschernobyl! Als könnte ein sonderbarer Tag, an dem ein sonderbarer Mensch einen höchst sonderbaren Besuch gemacht hat, nicht noch sonderbarer werden. Aber ja, scheiß drauf, esse ich halt den Auflauf. Was soll’s. Mittanzen in dem absurden Kasperletheater.
Seine Mutter war dann später zu ihm ins Zimmer gekommen und hatte ihm erzählt, dass der Wein dem Besucher nicht gutgetan habe. Vermutlich Rückfallprobleme des Exalkoholikers.
Er hat sich sogar bei uns entschuldigt, hatte sie zu Robert gesagt. Dass er seine Pflichten als Lehrer vernachlässigt hat. Aber er hat dann plötzlich gehen müssen, weil ihm, na ja, man hat’s an seinen Augen gesehen. Ihm ist schwindlig geworden, hat er gesagt. Na ja. Wie war der Auflauf? Hat er dir geschmeckt?
Was sollte denn das mit dem Handy? Bin ich jetzt Atommüll, den man von außen fernsteuern muss, oder –
Nein, mein Lieber, nein, um Gottes willen, es war nur, ich hab ihn nicht aus den Augen lassen können, weil er … weißt du, ich wollte dir das nicht sagen, aber dein Vater und ich, wir haben ihn … physisch … rausbegleiten müssen, weil er … na ja, du kannst dir vorstellen, was …
TEIL II
Im Anfang war die Wiederholung.
Jacques Derrida
Der britische Zoologe Frank Lane berichtet: Einer
Kuh wurde ihr Kalb weggenommen, und die Mutter schien
es sehr zu vermissen. Als Ersatz stellte man ihr
den mit Heu ausgestopften Balg eines Kalbes in den
Stall. Die Kuh beruhigte sich und begann, die grobe Imitation zu belecken, und das mit so großer Zärtlichkeit, dass die ausgestopfte Kalbshaut zerriss und das Heu herausfiel. Da fraß die Kuh seelenruhig das
Heu und nach und nach so ihr ganzes ›Kalb‹ auf.
Igor Akimuschkin, Launen der Natur
1 Die Abschlussarbeit
Im Spätherbst 2005 schloss ich mein Lehramtsstudium der Mathematik und der Germanistik mit einer Arbeit über sogenannte Vater-Sohn-Probleme im Mathematikunterricht ab.
Ein Vater hat zwei Kinder. Mindestens eines davon ist ein Sohn. Wie wahrscheinlich ist es, dass das zweite Kind auch ein Sohn ist? Die überraschende Antwort lautet: 1 : 3 . Nicht 1 : 2 . Und nehmen wir an, der Vater hätte zwei Kinder, von denen mindestens eines ein Sohn ist – und der Vater brüllt ins Nebenzimmer, worauf ein kleiner Junge im Türrahmen erscheint und sagt: Okay, ich bin dein Sohn, und es ist alles in Ordnung mit mir – wie wahrscheinlich ist es dann, dass auch das zweite Kind ein Sohn ist?
Ich ging in meiner Arbeit ein wenig auf die Geschichte dieser Aufgaben ein, auf das Phänomen ihrer großen Beliebtheit in der mathematischen Fachdidaktik, auf einige ausgewählte Beispiele, meist aus dem Bereich der Stochastik (Varianten des berühmten Ziegenparadoxons) und der Geometrie der Sonnensysteme.
Die Arbeit wurde von meinem Professor sehr gelobt. In einem Gespräch offenbarte ich ihm, dass ich daran dachte, auch meine Doktorarbeit über dieses Thema zu schreiben.
Er lehnte sich in seinem Stuhl ein wenig zurück, schlug die Beine übereinander und meinte, das müsse man natürlich gut überlegen, denn eine Doktorarbeit sei eine ganz andere Art von Projekt. Schon allein was den Umfang angeht.
– Sie könnten sich wiederholen, sagte er sanft.
– Na ja, sagte ich. Ich meine, ich werde ja zuerst mein Schulpraktikum machen.
– Jaaa, sagte er und klang erleichtert. Da haben Sie noch einiges vor sich, bevor Sie an den nächsten Schritt in wissenschaftlicher Hinsicht denken können. Wo werden Sie es denn machen?
– Was?
– Ihr Praktikum.
– Oh, ich hab mich noch nicht entschieden.
– Wissen Sie, Herr Setz, ich glaube, ich habe da eine Idee. Eine Empfehlung sozusagen.
2 Uncanny valley
Es war ein in Postergröße ausgedruckter Schnappschuss von einem der beiden Astronauten des Satelliten Sputnik 5 . Die Hunde Belka und Strelka wurden am 19. August 1960 ins All geschossen. Anders als im berühmteren Fall der Hündin Laika landeten die Tiere einen Tag später, zwar sehr verstört, aber immerhin lebendig und unverletzt, auf der Erde. Nachdem Strelka Junge bekommen hatte, wurde einer der Welpen der Tochter des damaligen Präsidenten John F. Kennedy als
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