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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Plakatbastelei. Wenn die Usual Suspects ein Kurbad mit ihm veranstalten, kommt er meist nicht zum Unterricht. Relativ gut vorhersagbare Patterns diesbezüglich.
    Jede Schulstunde im Proximity Awareness and Learning Centerbegann mit einer Wiederholung. Nach einer Woche war den Schülern die Tatsache, dass sie für den Rest des Schuljahres einen neuen Mathematiklehrer – oder, wie man es hier nannte: Mathematik-Tutor – haben würden, völlig gleichgültig geworden. Sie saßen, in gleichmäßiger Verteilung, in dem großen Hörsaal und blickten aus leeren Gesichtern auf mich herunter.
    Jeden Tag wollte ich am liebsten schreiend davonlaufen, wenn ich am Morgen diese entsetzlichen Gesichter sah.
    Ich kritzelte die Inhalte der jeweiligen Stunde in meiner winzigen Blockschrift in den Kamerabereich des Projektors. In der enormen Vergrößerung auf der weißen Leinwand wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie lächerlich diese Schrift wirkte. Die kleinen Buchstaben sahen aus wie vom Sturm umgeblasene Hütten, vor allem das M. Das I lehnte meist schräg an seinem Nachbarn. Zwar versuchte ich, die mathematischen Symbole etwas deutlicher zu schreiben, aber es gelang nicht immer.
    –  ’tschuldigung? Können Sie ein bisschen größer schreiben?
    Ich musste auf meinen Sitzplan schauen, um zu erkennen, wer mich da angesprochen hatte. Ein blasses weibliches Gesicht in der obersten Reihe. Sie hielt sich einen kleinen Operngucker vor die Augen, mit dem sie sich unheimlich elegant vorkam.
    Ich war jedes Mal froh, wenn ich wieder aus dem Hörsaal draußen war. Im schweren Sonnenlicht lehnte ich mich dann an eine Mauerecke und erholte mich von der unangenehmen Spannung in meinem Kopf.
    An den Türrahmen des Lehrerausgangs hatte jemand mit einem Edding-Stift geschrieben: Ein Dingo hat mein Baby gefressen.
    Ich hatte vor Jahren von einer Mutter gehört, die sich regelmäßig über der Wiege ihres Babys erbrechen musste, meist direkt auf das Kind. Damals hatte ich darüber lachen müssen.
    Heute konnte ich sie verstehen.
    Die Kopfschmerzen waren nicht besonders schlimm, und ich schrieb sie eher der Luftveränderung und der einstündigen Zugfahrt zu, die ich jeden Morgen hinter mich bringen musste, um zur Arbeit zu kommen. Die Abteile in den Zügen der ÖBB besaßen ein eigenartiges Binnenklima, das selten etwas mit den in der Wirklichkeit herrschenden Temperatur- und Luftdruckverhältnissen zu tun hatte. Außerdem kam ich den ganzen Tag über kaum dazu, etwas zu essen. Wenn sich die Schüler auf den Weg in den Speisesaal machten, musste ich aufbrechen, um rechtzeitig am Bahnsteig zu sein. Sonst verlor ich zwei ganze Stunden.
    Ein einziges Mal blieb ich länger und aß mit den Schülern zu Mittag. An diesem Tag war ausnahmsweise die Mathematikstunde auf den Nachmittag verschoben worden.
    Auf dem Teller, den mir die Küchenhilfe, eine den ganzen Tag über unsichtbare Frau namens Leni, freundlicherweise an den Tisch brachte, lagen Erbsen, Karotten, eine ordentliche Portion dunkelgelbes Püree und eine Forelle, die nichts mit der ganzen Sache zu tun hatte. Ihre Augen waren offen, und ihre Körperhaltung sprach eine deutliche Sprache. Ich brachte kaum einen Bissen hinunter. Die unappetitlichen Fress- und Schlürfgeräusche der Schüler und die unangenehm summende Luft im Speisesaal verdarben mir den Appetit. Also ging ich nach draußen und füllte meinen Körper mit sauberer, sonnenwarmer Luft.
    Später holte ich mir einen Kaffee aus dem Automaten in der Eingangshalle. Schwarz, ohne alles. Ein Becher voller Pupille.
    Die Luft im Hörsaal A war abgestanden und verbraucht. Fenster, die man hätte öffnen können, gab es nicht. Außerdem war derRaum überheizt. Aus einem Feuerlöscher tropfte weißer Schaum auf den Boden. Ich hatte mir schon mehrere Male vorgenommen, dem Hausmeister, Herrn Mauritz, Bescheid zu sagen, hatte es aber immer wieder vergessen.
    – Einen schönen Nachmittag!, wünschte ich den Schülern.
    Sie saßen einfach da. Augen, die in Gesichtern feststeckten. Einige kauten Kaugummi. Ein Mädchen in der obersten Reihe lag auf ihrem aufgeschlagenen Heft und schien zu schlafen.
    Ich seufzte und setzte mich hinter den Lehrertisch. Was machte ich hier. Kurven zweiter Ordnung. Ich schloss für einen Moment die Augen, fuhr mir mit der Hand über die Schläfen – obwohl das möglicherweise unhöflich gegenüber den Schülern war – und versuchte, mir einen Einstieg ins Thema vorzustellen. Kurven zweiter Ordnung. Kurven

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