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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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ganzen furchtbaren Unsinn, über die zum Himmel schreiende Sinnlosigkeit eines solchen Lebens und so weiter, über den Dreck, die Scheiße und den Sensationsjournalismus im zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhundert, und ach, niemand dachte daran, das Ganze auf MiniDisc aufzuzeichnen, was ewig schade war, jammerschade, genauso wie die Tatsache, dass es mir bis heute nicht gelungen war herauszufinden, wie es mit der jungen Frau eigentlich weitergegangen war.
    Ich musste niesen.
    Dr. Rudolph öffnete die Tür.
    – Kein Wunder, sagte er. Die Putzfrauen kommen nie in die Häuschen. Sie bleiben im Hauptgebäude. Bisher hat daran kein Argument etwas ändern können.

8  Tiere
    Wenn man eine Hand mit ein paar tausend Fingern hätte, könnte man die Anzahl der Nervenzellen eines Regenwurms an einer einzigen Hand abzählen. Und wenn man nun irgendeine Zelle im Regenwurmgehirn auswählt, sich ihre Eigenschaften und Umgebung merkt, wird man exakt dieselbe Zelle, mit allen Eigenschaften, auch im Gehirn eines anderen Wurms derselben Spezies finden. Daraus folgt, dass Regenwürmer isomorphe Gehirne haben.
    Es gibt nur einen Regenwurm.
    Robert wusste, er hatte sein ganzes Leben auf diese Information gewartet; sie kam von Professor Ulrich anstelle einer Strafpredigt oder eines Aufklärungsgesprächs oder was auch immer. Max hatte sich, während der Biologielehrer sprach, neben ihm in nichts aufgelöst. Wie ein Zuckerwürfel im Kaffee. Professor Ulrich erwähnte Studien aus den Vereinigten Staaten und aus Norwegen. Er schaute in die Zeitschrift und deutete beim Reden immer wieder zur Decke, als liefe dort oben ein interessanter Dokumentarfilm zum selben Thema.
    Robert nahm die Information mit ins Bett, schmiegte sich an sie und dachte an den grausam gemarterten Wurm mit dem Draht im Kopf. Warum wurde er so ruhig und entspannt angesichts dieses Bildes? Und dass es nur einen Wurm gab – warum war das um so vieles tröstlicher als alle Gebete und religiösen Sentenzen, die er in seinem Leben gehört hatte? Er dachte an morgen, an den Augenblick, da Golch und die anderen ihn in eine Ecke drängen würden oder … was weiß ich … irgendwas hatten sie bestimmt schon ausgeheckt. Aber die Vorstellung hatte nichts Erschreckendes oder Schlimmes mehr an sich. Er sah zwei Würmer, die im Staub krochen, zwei lebendige Röhren, die vorne Substanz aufnahmen, sie in Wurm-Masse verwandelten und hintenwieder ausschieden. Und jeder genau derselbe, mit denselben Gedanken.
    Ich: Ich bin hier.
    Ich: Das sehe ich genauso.
    Ich: Ich weiß.
    Ich: Ich bin mir nicht ganz sicher, wo wir sind.
    Ich: Wir?
    Ich: Ich.
    Ich: Ich bin aus dieser Richtung gekommen.
    Ich: Ich nicht.
    Ich: Doch.
    Ich: Ja, die Richtung ist vielleicht nicht das Entscheidende.
    Ich: Allerdings.
    Ich: Ich habe Angst.
    Ich: Angst ist relativ.
    Ich: Angst ist nicht relativ.
    Ich: Ja, das ist das Problem.
    Ich: Wie viele sind wir eigentlich?
    Ich: Ich bin hier.
    Ich: Und wie viele …?
    Ich: Ich weiß nicht, wie ich das beantworten soll.
    In der Folge versorgte ihn Professor Ulrich immer wieder mit einschlägigem Material. Mit der Geschichte des Hahns Mike, der ohne Kopf eineinhalb Jahre überlebte, von seinen Besitzern mit einer Pipette ernährt wurde und jeden Morgen, im vergeblichen Bemühen zu krähen, Luft aus seiner offenen Kehle presste. Mit der Geschichte vom zweiköpfigen Hund, den ein sowjetischer Wissenschaftler hergestellt hatte; vom transplantierten Affenkopf, der einige Stunden lang überlebte und mit einer vorher mit seinem Trainer einstudierten Wölb-Geste seiner Oberlippe nach Wasser verlangte; von der rätselhaften Seegurkenart, deren Körperzellen nicht altern; vom eigenartigen Blesshuhn, das im Besitz eines russischen Adeligen gewesen war und ausschließlich Eier mit bereitsversteinerten, mumifizierten Küken darin legte. Mit Berichten über Biolumineszenz, durchsichtige Haut und unbefleckte Empfängnis (Blattläuse). Mit dem wunderbaren Paarungsritual des Anglerfisches. Oder mit der Geschichte der Schnauzentiere.
    Robert hatte Cordula nicht erzählen können, was auf dem Empfang im Bankfoyer vorgefallen war. Sie bat ihn auch nicht darum.
    Sie zog es vor, ihn in ihren Körper zu lassen und ihn, dieses seltsame, immer unter Strom stehende Wesen, das sie liebte, zu streicheln, zu trösten, jede Bewegung seiner Hüften war wie das Eintauchen einer Nadel, die eine Wunde vernähte. Sie küsste ihn und versuchte ihn dazu zu bringen, die Augen beim Küssen zu schließen,

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