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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Kinn, ich versuchte, den Kopf zu heben und meine Situation zu verstehen, aber es funktionierte nicht, mein Oberkörper war nach vorne gebeugt, sodass das Gehen schwerer und schwerer wurde, bald fiel ich wieder in mich zusammen, und etwas Schweres, das hinter mir gewesen war, stürzte auf mich und verursachte mir ungeheure Schmerzen. In Panik wollte ich mich davon befreien, strampelte mit beiden Beinen, aber etwas Hartes stieß gegen meinen Kopf, und ein heller Blitz zuckte auf, an derselben Stelle, an der zuvor das zellophanartige Ding gewesen war.
    Einen Moment lang war es ruhig, und ich konnte die Augen öffnen und sogar etwas erkennen, aber mir war furchtbar schwindlig, ich versuchte mich am Fußboden festzukrallen, um nicht ins Leere zu kippen, ich drückte beide Hände gegen meinen Kopf, so dass er sich keinen Millimeter bewegen konnte, aber immer noch drehte sich alles, es war, als läge ich auf einer dieser rotierenden Scheiben, wo man sich mit Gurten festbinden lässt, um von einem Messerwerfer die eigene Körperkontur mit zitternden Klingen nachgezogen zu bekommen. Ich schrie wohl um Hilfe, und irgendwann kam jemand ins Zimmer, ein kleines Wesen, das Jeans, ein Adidas-T-Shirt und eine große Taucherglocke auf dem Kopf trug. Das Wesen stand über mir und streckte die Hand nach mir aus. Dann zog man es zur Seite.
    Ich erwachte mit rasenden Kopfschmerzen auf dem Beifahrersitz eines Autos. Ich verhielt mich ruhig, da ich weder wusste, wo ich war, noch, ob die Menschen, die mich begleiteten, mir gewogen waren. Erst in der Notaufnahme des Krankenhauses kam die Erinnerung allmählich zurück. Als Herr und Frau Tätzel und ein mir vage bekannt vorkommender Mann mit dichtem weißem Bart sich von mir verabschiedeten und mir alles Gute wünschten, wusste ich sogar wieder, worum es ging und warum ich hier war. Der Name des jungen Arztes, der sich mit mir befasste, war Uhlheim. Es war auch das erste Wort, das ich zu ihm sagte.
    – Ja, ist mein Name, sagte er.
    Sein Tonfall verriet eindeutig, dass er mich für einen Idioten hielt. Oder für jemanden, der sich den Kopf angeschlagen hat.
    Einige Minuten nach der Ankunft in der Notaufnahme mussteich gegen ein unerträglich starkes Déjà-vu-Gefühl ankämpfen. Sämtliche Handlungen, die rings um mich geschahen, erschienen mir wie choreographiert und zum hundertsten Mal aufgeführt.
    Als ich wieder zu Hause war und auf dem Rücken in meinem Bett lag, dachte ich: Jemand hat von meiner Gesundheit getrunken, und das Glas war eindeutig halb leer … Drink Your Health.
    Dodo, meine Bezugskatze, zu der ich immer kroch, wenn ich ein Problem hatte, saß so kompakt und pfoteneingerollt da, dass sie aussah wie ein kleines Schaukelpferdchen.
    Aus Versehen war ich ihr auf den Schweif getreten, als ich ins Zimmer gewankt war. Die Unmöglichkeit, sich bei einem Tier zu entschuldigen. Sie fauchte, bekam ein buschiges Fell, rannte davon und schaute mich aus der Entfernung entgeistert an. Über die Kategorien Versehen, Entschuldigung, Versöhnung verfügte sie nicht. Aber noch schlimmer und irritierender war die gespenstische Selbstverständlichkeit, mit der sie meinen unmotivierten Gewaltausbruch – denn als solcher musste ihr mein Missgeschick ja erscheinen – hinnahm. Schon eine Minute später hatte sie alles vergessen, putzte sich das Fell und ließ sich von mir streicheln, aber es blieb das ungute Gefühl zurück, das sich immer dann einstellte, wenn einem im Zerrspiegel der eigenen Ungeschicklichkeit vorgeführt wurde, wozu man tatsächlich hätte fähig sein können.
    Jetzt saß sie neben mir auf dem Bett. Ich rollte mich unter der Decke zu einem Ei. Eine Weile drehte sich noch das Zimmer um mich. Wenn ich die Augen schloss, hatte ich das Gefühl, auf dem Kopf stehend zu rotieren, so wie ein von seinem Seil hängender Akrobat im Zirkus. Nur wenn ich mich ganz still und reglos verhielt und jede Millimeterbewegung, die mein Kopf unwillkürlich zu machen versuchte, rechtzeitig untersagte, hörte das Universum auf sich zu drehen. Mir fiel ein, dass Vincent van Gogh angeblich an einer Krankheit namens Morbus Menière gelitten haben soll, bei der solche extremen Schwindelattacken regelmäßigauftreten. Unter diesem Blickwinkel erschienen mir auch die kosmischen Wirbel in seinen berühmten Nachtbildern völlig selbstverständlich, die schwirrenden Gärten und schief aus der Erde ragenden Häuser mit den hellflimmernden Fassaden, die unscharfen Gesichter der Erntearbeiter und das

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