Indigosommer
Ich hob die Hand und legte meine Fingerkuppen auf seine bleiche Wange. Sie war kalt, auch tief unter der Haut war Joshs Körper kalt.
»Wir müssen es den anderen sagen und die Polizei holen«, sagte ich mit rauer Stimme.
Wie in Trance nickte Mark. »Hol du die anderen, ich bleibe hier, bei ihm.«
Ich wünschte, ich hätte Mark sagen können, wie dankbar ich ihm dafür war. Aber auf einmal versagte meine Stimme mir den Dienst.
Die Tränen kamen auf dem Weg zurück ins Camp und ich ließ ihnen freien Lauf. Meine Beine bewegten sich mechanisch, ich zitterte am ganzen Leib und versuchte krampfhaft zu denken. Josh war tot. Er lag völlig bekleidet am Strand. Wie war er dorthin gekommen? Was war passiert? In meinem Kopf wirbelte alles wild durcheinander und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Da stand ich auch schon vor Alecs Zelt.
Wie sollte ich es ihm sagen? Josh war Alecs bester Freund.
»Alec?«, rief ich mit zittriger Stimme. Als niemand reagierte, öffnete ich den Zelteingang und spähte hinein. Alec lag allein im Zelt und sah mich aus kleinen verschlafenen Augen an. »Midget? Was ist denn los?«
»Es ist etwas Furchtbares passiert, Alec. Du musst mitkommen. Schnell.«
Er setzte sich auf, seine Dreads hingen ihm wüst in die Stirn. »Was ist passiert? Wovon redest du?«
»Josh ist tot.«
Alec sagte nichts, er starrte mich nur an. Ich merkte, dass er mir nicht glaubte, mir nicht glauben konnte. Aber dann sah er die Tränen auf meinem Gesicht und gleichzeitig wurde ihm klar, dass ich nicht der Typ für solch einen makabren Scherz war.
Mit fahrigen Fingern suchte Alec nach dem Zipper am Reißverschluss seines Schlafsackes. Er fluchte, weil sich der Stoff beim Aufziehen verklemmte.
»Wo?«, fragte er schließlich.
»Am Strand. Mark hat ihn gefunden. Er hat Wiederbelebungsversuche gemacht, aber es war vergeblich. Wahrscheinlich ist Josh ertrunken.«
»Ertrunken? Das glaube ich nicht. Josh ist ein hervorragender Schwimmer.«
Ich sagte nichts. Josh war komplett bekleidet und definitiv nicht schwimmen gewesen. Ich beobachtete Alec und ahnte, dass es noch nicht in sein Bewusstsein vorgedrungen war. Wie auch? Ich hatte Josh am Strand liegen sehen und wollte es immer noch nicht wahrhaben. Alec würde es glauben müssen, wenn er seinen Freund erst sah. Das konnte ihm niemand ersparen und der Gedanke daran war so furchtbar, dass mir die Tränen erneut über das Gesicht liefen.
Endlich hatte sich Alec aus seinem Schlafsack befreit und suchte nach seinen Jeans. Erst jetzt schien er zu merken, dass die Matte neben seiner leer war.
»Wo ist Brandee?«, fragte er.
Ich wischte mir über die Augen. »Ich weiß nicht, ich habe sie nicht gesehen. Die anderen schlafen noch. Ich habe dich zuerst geweckt.«
Draußen fragte Alec noch einmal: »Wo ist er?«
Der Nebel verbarg noch immer das Ufer. »Geh runter zum Wasser und lauf in Richtung Klippen.«
Alec verschwand im Nebel, und als ich Laura weckte, kam Janice aus Marks Zelt gekrochen. »Was ist denn los?«, fragte sie und rieb sich die Augen.
»Josh ist tot«, sagte ich nun schon zum dritten Mal, doch dadurch wurde es auch nicht wirklicher. Ich erzählte ihnen, dass Mark Josh leblos am Strand gefunden hatte. Laura sah mich mit dumpfem Schrecken an. Sie war kreidebleich, die Sommersprossen waren harte Punkte in ihrem Gesicht. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie machte den Versuch, etwas zu sagen, doch die Verzweiflung erstickte ihre Worte. Sie begann zu schluchzen.
»Wisst ihr, wo Brandee ist?«, fragte ich schließlich.
»Vielleicht ist sie duschen gegangen«, sagte Janice. Ihre Stimme klang eigenartig kühl, wie die einer Fremden. Ich ahnte, dass das, was ich über Josh gesagt hatte, noch gar nicht bei Janice angekommen war.
»Brandee«, rief ich.
Und bekam keine Antwort.
»Ich will ihn sehen«, brach es schließlich aus Laura hervor. Sie sprang auf und lief einfach los.
Sie glaubt dir nicht, dachte ich.
Janice und ich folgten Laura zum Strand. Inzwischen war die Nebelbank verschwunden und Alec und Mark waren schon von Weitem zu sehen. Sie hatten Joshs Körper vom Seetang befreit und ihn ein Stück weiter aufs Trockene gezogen.
Laura rannte. Sie stolperte, fiel hin und rappelte sich wieder auf.
Alec kniete neben Josh im Sand. In seinem Gesicht stand das pure Entsetzen. Laura ging in die Hocke. Sie senkte den Kopf, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann, unkontrolliert zu schluchzen.
Janice sah aus, als wäre sie am liebsten woanders, ganz
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