Indigosommer
Zusammengerollt wie ein Embryo im Mutterleib, hatte Brandee sich in einer Sandkuhle unter der Wurzel eines Treibholzstammes versteckt. Sie war bleich wie der Tod und hatte blutunterlaufene Augen. Die schwarze Schminke war überall auf ihrem Gesicht verteilt. Spucke lief ihr aus den Mundwinkeln und sie weinte wie ein kleines Kind.
»Brandee«, sagte ich sanft. »Komm raus da, okay?«
Ich wollte ihr helfen, doch als ich meine Hände nach ihr ausstreckte, kam plötzlich ein Knurren aus ihrer Brust und ihre dünnen Finger wurden zu Klauen, mit denen sie nach mir ausholte. Mit weit aufgerissenen Augen, die nur aus Pupillen zu bestehen schienen, starrte sie mich an. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie hatte Angst vor mir. Ich hatte das Gefühl, sie sah nicht mich, sondern etwas ganz anderes. Was sie auch genommen hatte in der Nacht: Brandee war von ihrer Umlaufbahn in einer fremden Galaxie noch nicht zurückgekehrt und alleine würde ich nicht fertig werden mit ihr.
Ich lief zum Strand zurück und rief den anderen zu, dass ich Brandee gefunden hatte. Alec und Janice kamen angelaufen und gemeinsam schafften sie es, Brandee aus ihrer Höhle he rauszuholen. Sie schien weder Janice noch Alec zu erkennen, denn sie schlug um sich, strampelte und kratzte. Offensichtlich war sie völlig verängstigt. Was hatte Brandee gesehen letzte Nacht?
Mit einem Mal schienen ihre Kräfte verbraucht zu sein und sie wurde völlig apathisch. Alec hob sie auf seine Arme und trug sie ins Camp zurück, wo er sie ins Zelt legte und Janice bat, sich um sie zu kümmern.
Mark wachte immer noch neben Josh. Neben Joshs Leiche.
Laura war inzwischen zum Supermarkt gelaufen, um die Polizei zu informieren. Die Polizei, das war Chief Howe, Conrads Vater. Mir wurde hundeelend, wenn ich nur daran dachte, dass er kommen und Fragen stellen würde. Conrad und Josh hatten sich meinetwegen geprügelt. Conrad hatte eine Drohung ausgesprochen. Noch wusste niemand von der Prügelei, das hoffte ich zumindest. Ich musste Conrad unbedingt sprechen – nur wie?
Was dann passierte, spielte sich in rasender Eile ab. Es war, als hätte jemand den Schnellvorlauf eines Films gedrückt: Chief Howe erschien mit seinem Deputy Mel Clamhouse im Camp, dicht gefolgt von einem Arzt und zwei Sanitätern, die eine Trage bei sich hatten. Alec führte die Männer zu Josh, Laura und ich folgten ihnen. Janice blieb bei Brandee.
Der Arzt stellte Joshs Tod fest. Der Deputy, ein älterer untersetzter Mann mit grauem Zopf, machte Fotos von der Leiche. Mark zeigte Chief Howe, wo Josh gelegen hatte, und beschrieb dem Polizisten, wie er dagelegen hatte.
»Ich habe Wiederbelebungsversuche gemacht«, sagte er, »und ihn danach aus der Brandungslinie gezogen. Dort haben wir es noch einmal versucht. Aber es war zu spät.« Mark schien um Fassung zu ringen.
Howe legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Schon gut, mein Junge, du hast das Richtige getan.«
Josh wurde von den Sanitätern in einen blauen Plastiksack gehoben und der Reißverschluss schloss sich über seinem Gesicht. Bei diesem so alltäglichen Geräusch lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Es klang, als öffnete jemand seinen Zelteingang, um einen neuen Tag zu beginnen. Aber für Josh würde es nie wieder einen neuen Tag geben. Ich konnte nicht hinsehen, als die Sanitäter die Trage fortbrachten.
»Wohin bringen sie ihn?«, fragte Alec.
»Ins Krankenhaus nach Port Angeles. Seine Leiche muss obduziert werden. Bis wir wissen, woran er gestorben ist, müssen wir von ungeklärter Todesursache ausgehen.«
Laura schlang die Arme um ihren Körper, krümmte sich und begann zu weinen.
»Wie viele seid ihr?«, fragte Howe.
»Sieben«, sagte Alec. »Sieben mit Josh.«
»Er war dein Freund?«
Alec nickte. Er sah furchtbar mitgenommen aus und ich hatte Mitleid mit ihm. Aber ich konnte auch nicht vergessen, was er über Conrad gesagt hatte.
»Seine Adresse und die Telefonnummer habe ich im Protokoll seiner Schadensanzeige«, sagte Howe. »Hat er noch bei seinen Eltern gewohnt? Wir müssen sie benachrichtigen.«
»Josh wohnt... wohnte bei seinem Vater, seine Mutter lebt nicht mehr«, sagte Alec. »Sie ist gestorben, als er zehn war. Aber sein Dad macht gerade mit seiner neuen Freundin Urlaub in Europa.«
Erstaunt sah ich Alec an. Das hatte ich nicht gewusst. Im Grunde genommen hatte ich überhaupt nichts über Josh gewusst. Der Kloß in meinem Hals drohte, mir die Luft abzudrücken.
»Hat er noch andere Verwandte?«, fragte
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