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Indigosommer

Indigosommer

Titel: Indigosommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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geschlafen und meine Blase drückte ganz furchtbar am nächsten Morgen. Ich ging nach draußen, um in das Wäldchen hinter unserem Camp zu pinkeln. Wie fast jeden Morgen war der Strand in Nebel gehüllt, aber in zwei oder drei Stunden würde die Sonne scheinen.
    Als ich zum Zelt zurückkam, war ich hellwach und meine Gedanken an Conrad ließen mir keine Ruhe. Es war zu früh, um zu ihm zu gehen und mit ihm über das alles zu reden. Aber ein Strandspaziergang würde mir helfen, meine Gedanken zu ordnen. Der Ozean würde mir die nötige Ruhe geben.
    Nach dem Zähneputzen und einer Katzenwäsche lief ich los. Zuerst runter zum Strand und dann nach links zu den Felsen. Eine dicke Nebelbank lag über dem Strand und nahm mir die Sicht auf die Klippen.
    Joshs Ausbruch gestern Nacht, vor allem seine verletzenden Worte, hatten mir den Rest gegeben. Vermutlich würde er die Prügelei mit Conrad verschweigen, weil ihm klar sein musste, dass ich dann auch auspacken würde. Trotzdem war der Friede an meinem Geburtstag trügerisch gewesen – genau, wie ich es befürchtet hatte. Unbeschwert konnte es nicht mehr werden im Camp, die restlichen Tage würde ich mich wie ein Fremdkörper fühlen. War es da nicht vernünftiger, die Sachen zu packen und für die letzten Tage zu Conrad zu ziehen? Dann wären die Fronten endgültig geklärt und jegliche Missverständnisse ausgeräumt. Zurück in Seattle, würde ich schon wieder mit Alec und Janice klarkommen.
    Ja, ich würde zu Conrad ziehen.
    Nachdem ich diesen Entschluss einmal gefasst hatte, fühlte ich mich gleich viel besser. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Ich hoffte, Conrad würde nicht nachtragend sein wegen gestern Abend. Die Freude auf ihn beflügelte meine Schritte.
    Plötzlich tauchte in einiger Entfernung eine Gestalt aus dem grauen Dunst auf, der über dem Strand lag. Es war Mark und er kniete neben etwas, das wie ein großer Haufen Seetang aussah. Immer wieder beugte er sich über den Haufen, wie ein Moslem beim Gebet. Als er aufsah und mich entdeckte, rief er meinen Namen und ruderte wild mit den Armen.
    Für einen Augenblick stand ich wie erstarrt. Lähmende Eiseskälte kroch in mir hoch. Eine böse Vorahnung darüber, was Mark da machte, befiel mich. Mir wurde klar, dass dort nicht nur Seetang lag. Ein Adrenalinstoß brachte mein Herz zum Rasen und nun packte mich würgende Angst. Ich begann zu laufen. So schnell ich konnte, rannte ich zu Mark.
    Der grünbraune Seetang war um den Körper eines Menschen geschlungen und einen wilden Augenblick lang dachte ich, es wäre Conrad. Nasse Jeans, nasse Turnschuhe, ein hochgeschobenes T-Shirt über der haarlosen Brust. Dunkle Haare klebten an seinem Gesicht, das furchtbar blass war. Auf der Stirn und am Kinn Schürfwunden. Mark drückte immer wieder auf Joshs Brust. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er das schon machte, doch etwas in mir spürte, dass es vergebens sein würde.
    »Komm schon Josh«, stammelte Mark, »tu mir das nicht an, okay?«
    Ich sank neben Josh auf die Knie.
    »Lauf und hol einen Krankenwagen«, schrie Mark mich an. Jetzt beugte er sich über das Gesicht seines Freundes, hielt ihm die Nase zu und blies ihm seinen Atem in die Lungen. Immer und immer wieder. Ich weiß nicht, wie lange er versuchte, Josh ins Leben zurückzuholen. Waren es nur Minuten oder waren es Stunden? Mir kam es wie eine Ewigkeit vor.
    Und während der ganzen Zeit wusste ich, dass Josh nicht zu uns zurückkommen würde.
    »Mark«, sagte ich sanft und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mark, wie lange machst du das schon?«
    »Keine Ahnung«, stieß er hervor. »Eine halbe Stunde vielleicht.« Er hörte nicht auf, Josh Luft in die Lungen zu blasen.
    Ich packte ihn an der Schulter und sagte leise: »Mark, hör auf! Josh ist tot.«
    Mark hob den Kopf und sah mich an, als hätte ich ihm ein Messer in die Brust gestoßen. Als ob es dadurch, dass ich es ausgesprochen hatte, wahr geworden war. Er krallte seine Hände in den Sand. Eine schaumige Welle umspülte uns.
    »Mein Gott, Smilla, das kann nicht sein. Er ist mein Freund.« Mark liefen Tränen über die Wangen.
    Ich zog meine Hand zurück. Für einen Moment saßen wir schweigend da und rührten uns nicht. Ich konnte nicht weinen, ich war wie gelähmt. Mir kam es so vor, als wäre das alles nur ein böser Traum, aus dem ich gleich erwachen würde. Ich hatte vorher noch nie einen Toten gesehen. Josh sah ganz friedlich aus, so, als würde er schlafen. Aber das tat er natürlich nicht.

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