Indigosommer
gemacht, nachdem Brandee mich mit Conrad auf dem Gang gesehen hatte.
Ich saß zwischen den Stühlen und das war kein guter Platz. Aber da war ich nun mal, und solange ich nicht gezwungen war, mich zu entscheiden, würde ich auch zurechtkommen.
Gegen zehn machte ich mich mit meinem Waschbeutel und einem Handtuch auf den Weg zu den Duschen. Es gab nur zwei Duschkabinen und am Wochenende herrschte dort jedes Mal Andrang. Aber als ich bei den Waschräumen ankam, verließ gerade eine Frau eine der beiden Duschkabinen und ich musste nicht warten.
Ich duschte, rubbelte mein Haar trocken und putzte Zähne. Auf Zehenspitzen betrachtete ich mich im Spiegel. Meine Haut war noch eine Nuance dunkler geworden, was das Weiß meiner Augen heller leuchten ließ. Ich hatte die zierliche Nase meiner Mutter und die vollen Lippen meiner dänischen Großmutter. Eigentlich ganz hübsch. Noch einmal fuhr ich durch meine Haare und verließ die Duschkabine.
Draußen fand ich meine kleine Taschenlampe nicht sofort. Ich kramte zwischen Haarwaschmittel und Körperlotion, und als ich glaubte, die Lampe gefunden zu haben, war es mein Kristalldeo, das ich in der Hand hielt.
Ich fluchte leise, da hörte ich plötzlich ein Geräusch in meinem Rücken. Irritiert drehte ich mich um. Conrad tauchte aus dem Dunkel der Sträucher wie ein Geist. Vor Schreck ließ ich den Deostift fallen.
»Hey«, sagte er. »Ich bin’s nur.« Er bückte sich und gab mir den Deostift zurück.
»Du hast mich erschreckt«, sagte ich mit wild klopfendem Herzen.
»Angst vor Werwölfen?« Er grinste. Conrad trug eine helle Baumwollhose mit vielen Taschen und seine schwarze Sweatshirtjacke.
»Blödsinn«, sagte ich und strich mir eine imaginäre Haar strähne hinters Ohr. In meinem Inneren herrschte plötzlich ein ähnliches Durcheinander wie in meinem Beutel. »Ich kann meine Taschenlampe nicht finden.«
»Die brauchst du nicht«, sagte er und deutete nach oben, wo durch die schwarzen Wipfel der Bäume hell der volle Mond leuchtete. Dann sah er mich wieder an. »Lust auf einen Strandspaziergang?«
Conrad lächelte nicht und ich hatte keine Ahnung, was er bezweckte. Ich wusste einfach nicht, woran ich bei ihm war und was er eigentlich von mir wollte. Was war mit seiner Freundin und seinem Kind? Warum suchte er immer wieder meine Nähe?
Vielleicht wollte er ja einfach nur nett sein. Ich weiß, es ist naiv, immer nur an das Gute im Menschen zu glauben, aber so war ich nun mal.
»Warum nicht«, sagte ich also.
Conrad führte mich auf dem kürzesten Weg zum Strand – einem schmalen Pfad mitten durch die Sträucher – und ich legte meine Sachen auf einem Treibholzstamm ab. Wir liefen die Gezeitenlinie entlang in Richtung Jamesinsel, immer nahe an der Gischt, die über den Sand schäumte. Es war eine sternenklare Nacht und die knochenweißen Schwemmholzstämme leuchteten im kalten Licht des Mondes. Der Pazifik war schwarz und kam mir vor wie ein riesiges Tier, das in der Dunkelheit atmet. Sein Atem, der aus der Tiefe heraufkam, roch nach Tang und Fisch.
Mit gesenktem Kopf, die Hände in den Hosentaschen vergraben, lief Conrad neben mir her. Anscheinend hatte er diesen Spaziergang nicht vorgeschlagen, um mit mir über Tamra und sein Baby zu reden. Und auch wenn langsam Zorn in mir aufstieg: Ich würde mich hüten, damit anzufangen, weil ich auf keinen Fall eifersüchtig und kindisch klingen wollte.
Es war ein wunderschöner Abend. Nimm, was du kriegen kannst, Smilla. Aus irgendeinem Grund ist dieser Junge hier, bei dir.
»Gibt es denn in dieser Gegend überhaupt noch Wölfe?«, fragte ich, um das Schweigen zu beenden. »Neulich Nacht, da habe ich so ein Heulen gehört.«
»Nein, Wölfe gibt es keine mehr in unseren Wäldern. Was du gehört hast, waren Kojoten. Und ...naja, Boone und Rowdy stimmen manchmal mit ein.« Conrad schien froh zu sein, über etwas Unverfängliches reden zu können.
»Was hat es denn nun wirklich mit dieser Geschichte auf sich?«, wollte ich wissen. »Ich meine damit, dass eure Vorfahren sich in Wölfe verwandeln konnten.«
Er lachte leise. »Andersherum.«
»Was?«
»Die Wölfe sind unsere Vorfahren. Wir Quileute wurden von Wölfen in Menschen verwandelt.«
»Verwandelt? Von wem?«
»Von K’wati, dem Verwandler, einem kleinen, kahlen Männchen. Er zog umher, und als er das Quileute-Land erreichte, war niemand da. Er schuf die Flüsse und gestaltete die Küstenlinie, dabei wurde er immer wieder von zwei Wölfen gejagt. Er versuchte,
Weitere Kostenlose Bücher