Indigosommer
Janice stellten ihre Beziehung inzwischen hemmungslos zur Schau, aber Janice kroch immer noch jeden Abend brav mit in unser Zelt, um dann irgendwann, wenn alle schliefen, zu Mark zu schleichen und die Nacht bei ihm zu verbringen.
Diesmal zog ich mich schon bald zurück. Doch die lauten Stimmen der Clique schallten über den Strand und an Schlaf war nicht zu denken. Irgendwann musste ich dann doch eingeschlafen sein, denn ich schreckte hoch, als es am Zelteingang rüttelte. Zuerst dachte ich an ein Tier, aber dann hörte ich das Zurren des Reißverschlusses und kurz darauf sank jemand schwer auf die Matte neben mir.
»Janice?«, fragte ich. »Bist du das?« Vielleicht hatte sie sich mit Mark gestritten.
Die Antwort war ein Grunzen. Der Geruch nach ungewaschenen Kleidern und Bieratem füllte das kleine Zelt. Schlagartig war ich hellwach. Janice war das ganz gewiss nicht. Sie roch immer gut.
»Josh?«
Statt einer Antwort kuschelte sich die Gestalt an meinen Schlafsack heran und legte einen Arm um mich. »Hmmm«, brummte es.
Der Alkoholdunst war widerlich. Ich setzte mich auf und befreite mich von Joshs schwerem Arm. Ich rüttelte ihn an der Schulter. »Josh, wach auf, verdammt«, zischte ich. »Du hast dich im Zelt geirrt. Das ist Janice’ Platz.«
»Hmmm, weiß ich«, brummelte er. »Aber die braucht ihn nicht.« Schlagartig wurde mir klar, dass Josh sich nicht geirrt hatte. Und auf einmal verstand ich auch, warum Janice jeden Abend erst mit zu mir ins Zelt gekommen war. Nämlich um genau das zu verhindern. Mensch, Smilla, du bist wirklich naiv, dachte ich. Allerdings nicht so naiv, dass ich nicht gewusst hätte, wo
hin das hier führen sollte. Josh hatte vermutlich beschlossen, seine Taktik zu ändern. Vorbei mit Zurückhaltung, jetzt würde es zur Sache gehen.
»Verschwinde, Josh«, sagte ich ärgerlich und rüttelte unsanft an seinem Arm. »Wenn Alec mitkriegt, was du tust, kriegst du höllischen Ärger. Ich bin noch nicht mal sechzehn.«
»Ach komm mir doch nicht so«, brummelte Josh. Er sprach verwaschen, offensichtlich hatte er sich eine Menge Mut angetrunken. »Nimm mich einfach in die Arme. Ich weiß, dass du mich magst.«
Mir reichte es. »Verschwinde aus meinem Zelt, Josh.«
Er zog an meinem Arm und legte ein schweres Bein über meinen Schlafsack. »Smilla, du willst es doch auch.«
»Gar nichts will ich«, protestierte ich, »ich...«Ich schreie das Camp zusammen, wollte ich sagen, aber dann wurde mir klar, dass Josh zu betrunken war, um mir ernsthaft Schwierigkeiten zu machen. Andererseits hatte ich keine Lust, neben ihm zu schlafen, weil er mit Sicherheit keine Ruhe geben würde. Also stieg ich kurzerhand aus meinem Schlafsack, schnappte mein Sweatshirt, die Jeans und meine Schuhe und ließ Josh allein im Zelt zurück.
Noch während ich mich draußen vor dem Zelt anzog, hörte ich sein gleichmäßiges Schnarchen.
Es war wieder eine klare mondhelle Nacht und die schwarzen Umrisse von James Island hoben sich vor dem nachtblauen Himmel ab. Die Baumskelette der Treibholzbarriere leuchteten wie bleiche Knochen. Das Donnern der Brandung war unheimlich laut und nah. Das Meer schläft nie, dachte ich. Es ist ein wartendes Ungeheuer, eines, das Menschen verschlingen und nicht wieder hergeben kann. Mich hatte Conrad gerettet. Aber sein Bruder war ertrunken.
Ich lief hinunter zum Strand und blieb plötzlich auf halbem Wege wie angewurzelt stehen. Was war das? Die Gischt in der Brandung schimmerte nicht weiß, sondern blau. Es war ein blaues Leuchten und Flimmern entlang der gesamten Brandungslinie. Das Meer sprühte Funken. Meeresleuchten, nannte sich das Phänomen, hervorgerufen durch phosphoreszierende Kleinkrebse. Ich hatte schon davon gehört, es aber noch nie erlebt.
Fasziniert starrte ich auf das Schauspiel, die schwebende Lumineszenz im Wasser. Und auf einmal sah ich ihn, den einsamen Wellenreiter in der Nacht. Seine schwarze Gestalt im Licht des vollen Mondes hatte etwas Gespenstisches an sich, so, als wäre er nicht von dieser Welt.
Damit er mich nicht bemerkte, lief ich zurück in den Schutz der Treibholzbarriere und bewegte mich dann so lange am Strand entlang, bis ich auf gleicher Höhe mit ihm war. Dort kletterte ich auf einen Stamm und verbarg mich in den blank gescheuerten Ästen seiner riesigen Wurzel, um den nächtlichen Surfer unbemerkt beobachten zu können.
Es war anders als alles, was ich bisher auf dem Wasser gesehen hatte. Die schwarze Gestalt des Wellenreiters glitt über
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