Indische Naechte
Wachzustand zurück. Die Luft war stickig, und es war stockfinster, und einen Augenblick wußte sie nicht, wo sie war. Die Erinnerung kam zurück, als sie Ians gemurmelte Flüche hörte. Der Unterton in seiner Stimme machte ihr angst, und so stieg sie aus dem Bett und tastete sich auf sein Bett zu. »Ian, was ist?«
Sie hatte jedoch die Entfernung falsch eingeschätzt, stieß gegen seine Liege und fiel auf ihn. Augenblicklich schlangen sich seine Arme fest um sie. Sein Körper war gespannt wie ein Bogen, und sie konnte seinen Herzschlag an ihrem Busen spüren. Laura bewegte sich ein bißchen, bis sie mit dem Gesicht zueinander auf der Seite lagen. Sie zog die Dec-ke über sie beide und hielt ihn ganz fest. »Was ist?« fragte sie noch einmal.
»Eigentlich nichts. Es ist nur... diese verdammte Dunkelheit«, sagte er mit zittriger Stimme. »Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe. Das Krachen war die Lampe, die auf dem Boden zerschellt ist. Ich habe vergessen, den Docht zu überprüfen. Ich bin aufgewacht, als sie erlosch. Dann habe ich das verfluchte Ding vom Tisch gestoßen, als ich nach Streichhölzern gesucht habe. Meine eigene Dummheit.«
Für jemanden, der die Finsternis haßte, mußte ein fensterloser Raum ein Alptraum sein. »Kein Wunder. Man sieht ja wirklich gar nichts«, murmelte sie. »Haben wir noch eine andere Lampe?«
»In meiner Tasche ist eine. In einer Minute stehe ich auf und suche sie.« Er versuchte noch einmal, seine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. »Es ist lächerlich. Vom Kopf her weiß ich genau, daß ich von einem dunklen Zimmer nichts zu befürchten habe, aber meine Eingeweide wollen nicht darauf hören.«
»Dennoch bist du nicht in Panik geraten.«
»Nicht ganz.« Seine Arme ließen ein wenig lockerer, und seine Hand glitt ihren Rücken hinab, als wollte er sich versichern, daß sie wirklich existierte. »Es hilft mir, daß du da bist. Sehr viel sogar.«
»Das ist gut.« In der Hoffnung, Reden würde seine Angst mildern, fragte sie: »War es im Schwarzen Brunnen denn ganz finster? Ich habe mich immer schon gefragt, wie Onkel Pjotr das Tagebuch schreiben konnte.«
»Der Brunnen war ein tiefes Loch ohne Fenster, aber mit einem Deckel oben auf der Öffnung. Im ersten Jahr oder so war oben ein Eisengitter, das ein bißchen Tageslicht aus dem kleinen Fenster des Raumes darüber hineinließ. Es war nicht viel, aber die Augen können sich unglaublich gut auf das kleinste bißchen Licht einstellen. Für Pjotr reichte es zum Schreiben. Wichtiger aber war: Wir konnten den Tag- und Nachtrhythmus beibehalten.«
Er bebte schon nicht mehr so stark. »Was war mit dem Eisengitter?« fragte Laura. »Ist es später entfernt worden?«
»Nicht lange nach Pjotrs Hinrichtung kam ein solider Holzdeckel auf die Öffnung. Danach sah ich nur noch etwas Licht, wenn man mir das Essen herunterließ.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, in völliger Dunkelheit zu leben«, sagte sie weich. »Erzähl mir davon.«
Er lachte voller Bitterkeit. »Warum solltest du ausgerechnet so etwas wissen wollen?«
Sie hauchte einen Kuß auf seine Wange. »Um dich besser verstehen zu können, Duschenka. Um zu wissen, welche Pfote verwundet ist.«
»Du bist ein Quälgeist, Larischka«, sagte er müde. »Wenn du es wirklich wissen willst: Es ist, als ob man in einer Art Hölle lebt, die alle Bande zur Wirklichkeit zerschneidet. Ohne Licht gibt es nichts mehr. Ich verstehe jetzt, warum Gott eine Welt erschaffen wollte, um den leeren Raum zu füllen«, fügte er dann mit einem Anflug schwarzen Humors hinzu. Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Die Zeit war verschoben, bis sie ganz verschwand. Es war unmöglich herauszufinden, ob Minuten, Stunden oder Tage vergangen waren. Das Ergebnis war eine Form von Wahn, eine Zersetzung von Seele und Geist, die ich nicht beschreiben kann. Selbst Dreck, Kälte und Hunger schienen nicht mehr zu existieren.«
Wieder dauerte es eine Weile, bevor er weitersprach: »Manchmal hielt ich es nicht mehr aus und weinte stundenlang.«
Laura wußte instinktiv, daß er etwas Derartiges niemals bei Licht zugegeben hätte. Diese Dunkelheit schuf eine tiefe, intime Einheit, die diese Art von Ehrlichkeit möglich machte. »Wenn Pjotr noch bei dir gewesen wäre«, fragte sie, »wäre es dir dann leichtergefallen, dein inneres Gleichgewicht zu behalten?«
»Ja, ich wäre viel besser zurechtgekommen. Gott weiß, ich war schon in einem üblen Zustand, als Pjotr starb. Aber die Kombination von
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