Individuum und Massenschicksal
vernünftiger Grenzen biologisch imstande, solche Materialien zu assimilieren und bestimmte Chemikalien sogar zu seinem Vorteil zu verwenden. Fühlt sich der Mensch jedoch ohnmächtig und in einem Zustand generalisierter Angst befangen, dann kann er selbst die natürlichsten und ursprünglichsten Bestandteile seiner Nahrung in Gift verkehren. Eure Medien, insbesondere das Fernsehen, wie auch eure Künste und Wissenschaften überschwemmen euch mit Suggestionsinhalten der Massen. Eure Literaten liefern euch Romane, in denen Antihelden porträtiert werden, und oft genug zeichnen sie das individuelle Dasein als sinnlos, bar jeder Möglichkeit, der persönlichen Verwirrung und Angst handelnd entgegenzutreten.
Viele - wiewohl nicht alle - Romane oder Filme ohne eigentliche Handlung verdanken sich diesem Glauben an die Ohnmacht des Menschen. In solchem Zusammenhang ist Handlung niemals heroisch, und der Mensch ist überall Opfer einer fremden und feindlichen Welt.
Auf der anderen Seite haben eure so gewöhnlichen, literarisch wertlosen, jedoch gewalttätigen Fernsehdramen tatsächlich eine soziale Funktion, indem sie nämlich dem Gefühl generalisierter Angst ineiner speziellen Situation konkreten Ausdruck verleihen, um sie dann dramatisch aufzulösen. Was zählt, ist die individuelle Aktion. Die Handlung mag stereotyp und die Darstellung schauderhaft sein, in altbewährter Weise siegt jedoch der »Gute«.
(23.30 Uhr.) In solchen Sendungen zeichnen sich tatsächlich die generalisierten Ängste der Nation ab. Zudem aber handelt es sich bei ihnen um - von der Intelligentsia verachtete - Volksdramen, in denen der Mann der Straße heroische Züge entwickeln, auf ein klares Ziel hinsteuern und als Sieger triumphieren kann.
Oft überzeichnen solche Filme die Welt eurer Kultur, und freilich kommt die Lösung meistens durch Gewalt zustande. Aber die zugrunde liegenden Glaubenssätze eurer höheren Bildung führen euch in eine noch trostlosere Szenerie, wo jegliches Handeln, auch die gewaltsamste Aktion von Menschen, die sich zum äußersten getrieben fühlen, sinnlos ist. Der einzelne Mensch braucht aber das Gefühl, daß seine Handlungen zählen.
Er fühlt sich zur Gewalttätigkeit nur als zu seiner letzten Zuflucht gedrängt - und Krankheit ist oft diese letzte Zuflucht. (Lange Pause.) Eure Fernsehdramen, die Räuber-und-Gendarm-Spiele, die Spionagefilme sind primitiv, aber sie lösen Spannungen, was man von den TV-Veröffentlichungen des Gesundheitsdienstes nicht eben behaupten kann. Der Zuschauer eines Krimis kann sagen: »Natürlich fühle ich mich nicht sicher, natürlich habe ich Angst, da ich in einer solchen Welt der Gewalt lebe!« Das unbestimmte Angstgefühl findet so einen Grund zu seiner Rechtfertigung. Doch solche Sendungen bieten wenigstens eine dramatisch angelegte Lösung, während die Durchsagen des öffentlichen Gesundheitsdienstes nur fortschwärendes Unbehagen erzeugen. Derartige Konzentrationsübungen der Massen verschlimmern lediglich eine Situation, die an und für sich schon schlimm genug ist.
Im großen ganzen also haben Filme mit gewalttätiger Handlung eine Funktion zu erfüllen insofern, als sie den einzelnen Menschen in dem Gefühl bestärken, daß ihm Macht gegeben sei, in eine gegebene Situation handelnd einzugreifen. Der Gesundheitsdienst bringt bestenfalls den Arzt als Vermittler ins Spiel. Es wird erwartet, daß ihr euren Körper zu einem Arzt bringt, gerade so wie ihr euer Auto zu einer Werkstatt bringt, damit die reparaturbedürftigen Teile ausgebessert werden. Euer Körper wird wie ein außer Kontrolle geratenes Fahrzeug betrachtet, das dauernd überprüft werden muß.
Der Arzt ist so etwas wie ein biologischer Mechaniker, der euren Körper viel besser kennt als ihr selbst. Diese die Medizin und deren Vertreter betreffenden Glaubensüberzeugungen sind nun in die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen eurer Kultur eingebettet; insofern kann man nicht allein den Medizinern oder ihrem Berufsstand die Schuld zuschieben. Euer wirtschaftliches Gedeihen ist ebenfalls Teil eurer persönlichen Realität. Viele wahrhaft ihrem Beruf verpflichtete Ärzte wenden die medizinische Technologie durchaus mit spirituellem Verständnis an, doch sind auch sie Opfer der von ihnen gehegten Glaubensüberzeugungen.
Wenn ihr keine Kopfschmerzmittel mehr kauft, könnte es passieren, daß euer Onkel oder ein Nachbar seine Arbeit verliert und seine Familie nicht mehr ernähren kann und daher auch nicht mehr über
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