Individuum und Massenschicksal
vielen ernsthaften, seriösen Erwachsenen zu hören bekommen, daß Tag- und Wunschträume euch nicht weiterbringen.
In der Geschichte vom Aschenbrödel jedoch gelingt es der Titelfigur, obwohl arm und von niedrigem Stand, ein allem Anschein nach unerreichbares Ziel zu erreichen. Aschenbrödels Wunsch, an einem Ball des Fürsten teilzunehmen und den Prinzen zu treffen, setzt fernab jeder Logik eine Reihe magischer Geschehnissse in Gang. Die Patin, die plötzlich als Fee in Erscheinung tritt, verwandelt die Gegenstände des täglichen Gebrauchs, ein Kürbis wird zur Kutsche, und viele andere Verwandlungen spielen sich ab.
Kinder haben dieses Märchen immer geliebt, denn sie erkennen die ihm innewohnende Gültigkeit.* Die Feenpatin ist eine schöpferische Personifizierung des inneren Selbst, das in Erscheinung tritt, um dem sterblichen Ich zu Hilfe zu kommen und seine Wünsche zu erfüllen, selbst wenn dessen Anliegen nicht in den praktischen Bezugsrahmen des normalen Alltagslebens zu passen scheinen. Wenn das innere Selbst auf diese Weise antwortet, werden sogar die üblichen, gewöhnlichen, dem Anschein nach trivialen Umstände mit einer neuen Vitalität aufgeladen und scheinen für das betreffende Individuum »zu arbeiten«.
Wer jetzt dieses Buch liest, ist sicher schon zu alt, um sich noch der vielfältigen Phantasien der frühen Kindheit entsinnen zu können. Aber Kinder verstehen spontan, daß sie an der Entstehung von Ereignissen, die ihnen zuzustoßen scheinen, wesentlich beteiligt sind. Sie experimentieren oft und viel, meist im geheimen, da die Erwachsenen ja immer versuchen, die Kinder der vorgegebenen Wirklichkeit der Alltagswelt anzupassen, die mehr oder minder als gebrauchsfertiges Massenprodukt für sie bereitgehalten wird.
* Natürlich sahen Jane und ich eine Verfilmung des Märchens, wie wir es in den USA kennen. (Im Märchen der Gebrüder Grimm kommt dem Aschenputtel die verstorbene Mutter zu Hilfe.) Ich machte mir die Mühe, der Sache weiter nachzugehen. So erfuhren wir, daß das Märchen vom Aschenbrödel viel älter und weiter verbreitet ist, als wir gedacht hatten; es reicht zurück ins China des neunten Jahrhunderts und existiert in Hunderten von Versionen rund um die Erde.
Kinder experimentieren mit der Schöpfung lustvoller oder auch furchteinflößender Geschehnisse, wobei sie versuchen, für sich selbst die Art der Kontrolle über ihre eigene Erfahrung festzustellen. Sie stellen sich lustvolle und furchteinflößende Erfahrungen vor. Sie sind tatsächlich fasziniert von den Auswirkungen, die ihre Gedanken, Gefühle und Absichten auf alltägliche Vorkommnisse haben. Das ist ein natürlicher Lernprozeß. Wenn sie »Butzemänner« erschaffen können, dann können sie sie auch wieder zum Verschwinden bringen. Wenn ihre Gedanken sie krank werden lassen können, dann gibt es für sie keinen wirklichen Grund, Krankheit zu fürchten, denn sie ist ihre eigene Schöpfung.
Dieser Lernprozeß wird jedoch schon in der Kindheit im Keim erstickt. Seid ihr dann Erwachsene, so hat es den Anschein, als wäret ihr subjektive Wesen in einem eurem Bewußtsein übergestülpten objektiven Universum, fremdbestimmt und praktisch außerstande, das eigene Lebensgeschehen mehr als oberflächlich zu kontrollieren.*
(22.02 Uhr.) Die Geschichte vom Aschenbrödel wird zu einem Phantasiegebilde, einer Täuschung, oder sogar zu einer Geschichte über das Erwachen der Sexualität im Freudschen Sinne. Durch die Enttäuschungen, die ihr erfahren habt, mag es tatsächlich so aussehen, als stehe ein solches Märchen in direktem Widerspruch zur Lebenswirklichkeit. Das Kind in euch entsinnt sich jedoch dunkel eines eigentümlichen Gefühls der Meisterschaft, die nicht verwirklicht werden konnte, einer Macht, die fast ergriffen und dann anscheinend auf immer verloren wurde, ja einer Daseinsdimension, in der Träume buchstäblich wahr wurden. Das Kind, das ihr wart, verspürte natürlich noch mehr: es spürte seine eigene größere Wirklichkeit in einem völlig anderen Bezugsrahmen, aus dem es nicht so lange zuvor hervorgegangen und mit dem es noch immer innig verbunden ist. Es fühlte sich also umgeben von den Wirklichkeiten des Bezugssystem 2.
* Die eigentliche Sitzung 806 findet man in Kapitel 2. In dem ausgesparten Teil jener Sitzung kam Seth aber mit einigen Kommentaren in bezug auf Kinder durch, die gut zu seinem Material von heute abend passen. »Der Kraftpunkt ist in der Gegenwart. Ihr solltet die Wichtigkeit eines
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