Individuum und Massenschicksal
Guten Abend.
(»Guten Abend, Seth.«)
Nun: Auch Tiere bedienen sich der Imagination. Sie verfügen über Vorstellungskraft, was immer ihr zur Zeit darüber denkt. Der Mensch allerdings ist so begabt, daß er seine Erfahrungen steuert und seine Zivilisationen und Kulturen weitgehend durch den Gebrauch seiner imaginativen Fähigkeiten erschafft.
Dieser Punkt ist euch überhaupt nicht klar. Dessenungeachtet gründen sich eure gesellschaftlichen Organisationsformen, zum Beispiel selbst eure Regierungen, auf imaginative Prinzipien. Die Grundlage eurer innersten Erfahrung wie auch die all eurer Organisationsformen beruhen auf einer Wirklichkeit, die von den Institutionen selbst, die ihr ihre Entstehung verdanken, nicht anerkannt wird.
Es geht jetzt auf Ostern (26. März) zu, die jährliche Feier eines Geschehens, das als historische Tatsache betrachtet wird: die
[Auferstehung und] Himmelfahrt Christi.* Ungezählte Millionen haben auf die eine oder andere Weise dieses Geschehen durch die Jahrhunderte gefeiert. Privatleben, allgemeine Feststimmung und religiöse Inbrunst gingen ineinander auf. Zahllose öffentliche Festlichkeiten, Feiern im Schoße der Familie und kirchliche Gottesdienste wurden abgehalten an längst vergessenen Ostersonntagen. Aus dem gleichen Anlaß wurden allerdings auch blutige Kriege geführt und fanden Verfolgungen statt, in denen Menschen, die die Dogmen der einen oder anderen Glaubenslehre nicht anerkannten, um des Seelenheils willen ums Leben gebracht wurden.
* Ich ergänzte Seths Aussage durch »Auferstehung und«, weil Jane mir sagte, daß der allgemeinen Lehre zufolge die Auferstehung Christi von den Toten sich am Ostersonntag, am dritten Tage nach seiner Kreuzigung, ereignete, wogegen seine Auffahrt zum Himmel später stattfand - 40 Tage später, wie es in der Apostelgeschichte des Lukas (1, 10) heißt. Soweit uns bekannt ist, steht Seths Folgerung, daß Auferstehung und Himmelfahrt Christi am selben Tag stattfanden, im Widerspruch zum allgemeinen Glauben.
»Hier schien Seth die beiden Geschehnisse ineinander zu teleskopieren,
« schrieb Jane, »oder sich auf beide miteinander zu beziehen, als ob da für ihn kein Unterschied bestünde... Vielleicht legt Seth nahe, daß die Himmelfahrt das Hauptmoment in der Christusgeschichte sei und weniger die Auferstehung, oder er sagt uns, daß die beiden Ereignisse, thematisch miteinander verflochten, als ein einziges betrachtet werden können.« Da wir nicht willkürlich etwas an Seths Texten ändern, stehen hier seine Erwähnung der Himmelfahrt statt der Auferstehung und eine ähnliche, die gleich folgen soll, so da, wie sie gegeben wurden.
Jane und ich haben auch Forschungsberichte über das »Neue Testament
« zu Rate gezogen und entdeckt, daß einigen Bibelforschern zufolge von den vier Evangelien (des Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, in dieser Reihenfolge) diejenigen des Lukas und des Johannes so gelesen werden können, daß Auferstehung und Himmelfahrt am selben Tag stattgefunden haben. Doch in der Apostelgeschichte postuliert Lukas das 40-Tage-Intervall zwischen den beiden Ereignissen. Aufgrund solcher Widersprüche stellt sich beim Studium der Evangelien und verwandten Materials Verwirrung ein. Jesus Christus selbst hat keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen, und es gibt auch keine Berichte über sein Leben seitens unmittelbarer Augenzeugen oder auch nur Zeitgenossen.
Einige Gelehrte behaupten zwar, das Markusevangelium sei früher entstanden, doch wurden den meisten Bibelforschern zufolge die Evangelien erst zwischen den Jahren 65 und 110 n. Chr. geschrieben. In diesen gibt es jedenfalls viele Übereinstimmungen, aber auch Unstimmigkeiten und Lücken, die Fragen aufwerfen: Warum wird die Auferstehung nicht beschrieben?
Warum gibt es so wenige Hinweise auf die Himmelfahrt? Matthäus zum Beispiel erwähnt sie überhaupt nicht, und Paulus spielt in seinen Schriften nur einmal darauf an (1. Timotheus 3, 16). Ist die Berichterstattung des Lukasevangeliums nur schematisch statt chronologisch? Wenn wirklich Zeit (bis zu 40 Tagen) zwischen der Auferstehung und der Himmelfahrt Christi verging, wo befand er sich dann körperlich während all dieser Zeit, abgesehen von den wenigen berichteten Gelegenheiten, bei denen er sich den Frauen, die sein Grab leer gefunden hatten, den Aposteln und einigen anderen offenbarte?
Manchmal kam Christus als eine Erscheinung - aber wie Seth in einer persönlichen Sitzung kommentierte: »Es kann keine
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