Ines oeffnet die Tuer
Bürgersteig ⦠das Leben ging weiter, als wäre nichts geschehen.
Ines trat einen Schritt zurück und betrachtete die Tür des Refugiums. Es erschien ihr plötzlich grotesk, wie sie dort in der Wand ihres Zimmers prangte, deplatziert, falsch, als wäre sie aufgemalt. Sie war nicht real. Hinter der Wand lag nicht das Refugium, sondern die Nachbarwohnung, alles andere war Fantasie, ein kindischer Traum â¦
Wach auf, Ines!, befahl sie sich.
Sie starrte auf die Tür und hoffte, dass sie sich in Luft auflösen, schrumpfen oder einfach nicht mehr da sein würde, sobald sie sich umdrehte.
Aber so einfach war es nicht.
»Ich will dich nie wieder sehen«, fauchte sie in Richtung Tür. »Verschwinde, lass mich in Frieden!«
Tränen rollten ihre Wangen herab. Sie war wütend und traurig und keins der Gefühle lieà nach.
Wie konnte mich Oma so belügen? Mir etwas so Wichtiges verschweigen? Ich will dieses geheime Zimmer nicht haben. Es soll aus meinem Leben verschwinden!
Sie versuchte Agnes anzurufen, aber natürlich hob niemand ab.
Ines nahm ihren Handspiegel vom Nachttisch und überprüfte noch einmal, ob die Locken auch wirklich verschwunden waren. Das stumpfe Braun ihrer Haare machte sie ratlos.
Wie soll ich das in der Schule erklären? Alle werden gaffen, wenn ich von einem Tag auf den anderen mein Aussehen so stark verändere. Sie werden mich auslachen. Sie werden glauben, ich hätte wirklich eine Perücke getragen â¦
Sie sank auf ihr Sofa und heulte, versuchte, das Schluchzen mit einem Kissen zu ersticken.
Da klopfte es an der Zimmertür.
»Ines?«
Es war ihre Mutter. Carmen musste das Weinen gehört haben.
»Lass mich in Frieden!«, rief Ines und wischte sich hastig durch die Augen.
Aber Carmen kam schon herein, während die Tür des Refugiums auf geheimnisvolle Weise verschwand. Ines bemerkte es nur aus den Augenwinkeln. Als sie den Kopf drehte, war die Tür längst fort.
»Was ist denn los, mein Engel?« Carmen setzte sich neben sie und streichelte ihr über den Rücken.
Es war lange her, dass ihre Mutter sie so liebevoll berührt hatte. Aber es fühlte sich gut an. Ines kuschelte sich an Carmen und heulte an ihrer Brust.
»Ich hasse meine Haare. Ich sehe furchtbar aus.«
»Wie kommst du denn darauf? Deine Haare sind wundervoll.«
»Nein, sie sehen langweilig aus. Warum habe ich nicht solche Locken wie du?« Wieder spürte Ines Zorn in sich aufwallen. »Es ist nicht fair!«
Carmen lächelte. »Das stimmt, meine Locken hast du nicht geerbt. Aber das heiÃt doch nicht, dass deine Haare langweilig aussehen. Ich finde ihren warmen Braunton wunderschön. Den hast du von deinem Vater und von Agnes.« Sie strich Ines die Haare aus dem Gesicht. »Wir müssten nur mal wieder die Spitzen nachschneiden.«
Ehe Ines protestieren konnte, schleppte Carmen sie ins Bad, nahm Kamm und Schere zur Hand und versprach, ihrer Tochter eine neue Frisur zu zaubern.
»Du bist schlieÃlich kein Kind mehr, sondern eine junge Dame. Da können wir ruhig mal eine frechere Frisur probieren.«
Sie war mit Feuereifer bei der Sache. So hatte Ines ihre Mutter lange nicht erlebt. Es war auch ewig her, dass Carmen ihr die Haare geschnitten hatte. Ãberhaupt hatten sie lange nicht mehr so viel Zeit zusammen verbracht â und das Ergebnis konnte sich sehen lassen!
Am Ende hatte Carmen die Haare um einige Zentimeter gekürzt und eine halbe Dose Schaumfestiger verbraucht. Ines betrachtete mit leuchtenden Augen ihr Spiegelbild. Die Haare waren hübsch durchgestuft und glänzten seidig. Und langweilig sahen sie wirklich nicht mehr aus.
Vor allem aber waren ihre schlechten Gefühle verschwunden, als hätte Carmen sie mit den Spitzen abgeschnitten.
So kann ich mich in der Schule sehen lassen! Und wenn es blöde Fragen gibt, sage ich, dass ich zurzeit eben ein bisschen herumexperimentiere. Warum auch nicht? Geht keinen was an.
Insgeheim war sie erleichtert, das Problem mit den Haaren gelöst zu haben. Und zwar ohne Refugium.
Vor allem aber war sie dankbar für Carmens Unterstützung, die sie an diesem Nachmittag mehr gebraucht hatte als je zuvor.
Â
19.
Als Ines am nächsten Tag zur Schule ging, sprach niemand sie auf die fehlenden Locken an. Ein paar Jungs sahen ihr zwar wie am Vortag hinterher und die Mädchen tuschelten, aber Karol suchte in der groÃen Pause
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