Ines oeffnet die Tuer
doch seit meinem Besuch im Dorf nicht gesehen.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, Oma.«
»Doch, das hast du. Die erste Regel, Ines. Was du dem Zimmer entnimmst, musst du zurückbringen.«
»Ja, einen Gegenstand«, rief Ines. »Aber doch nicht meine Haare! Die gehören jetzt mir, Oma, ich wollte schon immer solche Locken haben.Ich kann sie nicht zurückgeben.«
»Du musst«, sagte Agnes sanft. »Du hast es versprochen.«
»Die Schuhe mit den Schmetterlingsschnallen hast du auch nicht zurückgebracht«, protestierte Ines ein letztes Mal. »Zumindest nicht beide.«
»Das war ein Unfall und ich habe ihn bitter bereut. Verstehst du nicht, Ines? Du bringst dich in Gefahr, wenn du die Regeln brichst.« Agnesâ Stimme bekam wieder diesen warnenden Unterton. »Es gibt da drauÃen Leute, die nur auf eine solche Gelegenheit warten.«
Ines umklammerte das Telefon fester. »Was für Leute?«
»Böse Leute. Leute, die nach dem Refugium suchen, die es für sich haben wollen.« Agnes klang dumpf. »Ich wollte dich nicht beunruhigen, aber in den letzten Tagen ist etwas geschehen. Jemand kam in mein Dorf. Ein Mann â¦Â«
Ines hörte atemlos zu.
»Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich nach so langer Zeit finden. Alles begann mit dem Schuh, den ich damals auf der Brücke in Paris verlor. Ich hätte ihn in das Refugium zurückbringen müssen. Aber ich konnte es nicht, er lag auf dem Grund der Seine. Er blieb in unserer Welt. Durch ihn haben sie mich aufgespürt.«
»Wer sind diese Leute? Was wollen sie von dir?«
»Ich hoffe, dass du ihnen nie begegnest. Das könnte ich mir nie verzeihen. Aber ich werde mit ihnen fertig. Solange du dich an die Regeln hältst, kann dir nichts geschehen.«
Ines stiegen Tränen in die Augen. »Oma, du machst mir Angst.«
»Bring die Haare zurück«, beschwor Agnes sie. »Bald sehen wir uns wieder. Dann werde ich dir mehr über den Mann erzählen.« Sie hielt kurz inne. »Ich küsse dich, Schatz. Bleib tapfer.«
Sie beendete das Gespräch.
Ines war fassungslos. Ihr Herz hämmerte in der Brust und sie spürte Angst und Wut in sich aufstiegen. Angst vor dem, was Agnes gesagt hatte, und Wut, weil sie es bislang verschwiegen hatte.
Warum hast du es mir nicht eher gesagt?, schrie es in ihr. Wenn es Leute gibt, die dich wegen des Refugiums verfolgen, hättest du es nicht an mich weitergeben dürfen! Ich bin noch ein Kind. Ich â¦
Ihre Hand wanderte unwillkürlich zu den Haaren. Sie spürte, wie die Locken sich um ihre Finger ringelten, aber diesmal fühlte es sich bedrohlich an, so als wüchsen Schlangen oder Würmer auf ihrem Kopf.
Ines fuhr vom Sofa empor, rannte zur Tür des Refugiums und riss sie auf.
Innen brannte Licht. Der Vorhang am Fenster war zur Seite gezogen. Hinter der Scheibe tobte ein Sturm. Der Nebel wirbelte in nachtgrauen Schleiern umher, Ines hörte ein Donnern, und die Dielen bebten unter ihren FüÃen. Der schwarze Bezug des Sessels hatte seine Haare aufgestellt wie eine Raubkatze ihr Fell vor dem Angriff.
Ines stolperte auf den ovalen Spiegel zu, der vor dem Sessel stand. Als sie hineinblickte, hörte sie ein Knirschen. Auf der gläsernen Fläche breitete sich ein Sprung aus, von oben nach unten. Feine Verästelungen platzten durch das Glas und trübten ihr Spiegelbild.
Ines betrachtete sich.
Die Locken auf ihrem Kopf waren so schön. Ihr Glanz, ihr Zauber waren vollkommen ⦠sie sah in den Spiegel, um den Anblick in Gedanken festzuhalten wie eine Fotografie. Dann umfasste sie den goldenen Rahmen mit beiden Händen und schloss die Augen.
Sie hörte den Spiegel zerspringen. Glasscherben fielen klirrend herab.
Als sie die Augen aufschlug, blickte sie auf den nackten Holzrahmen. Nur eine schmale Scherbe steckte noch darin und spiegelte einen Ausschnitt ihres Gesichts. Sie drehte den Kopf, bis sie ihr Haar sehen konnte.
Die Locken waren verschwunden.
Ines trug wieder ihre glatten, nussbraunen, etwas langweiligen Haare, und in diesem Augenblick war sie so erleichtert, dass sie heulen musste.
Â
18.
Die Tür fiel leise ins Schloss.
Inesâ Finger zitterten, als sie die Klinke loslieÃ. Der Widderhorngriff schimmerte im Nachmittagslicht, das durch das gekippte Fenster in ihr Zimmer fiel. DrauÃen erklang Vogelgezwitscher, ein Auto hupte, jemand lachte auf dem
Weitere Kostenlose Bücher